CROSSROADS

»So dunkel, wie tief im Arsch einer Kuh!« Das hatte sein Großvater immer zu solchen Nächten gesagt, wenn sie gemeinsam vor dem Haus auf der Veranda saßen. Als er noch ein Kind war, hatte das seinem Großvater immer einen rügenden Blick von seiner Großmutter eingebracht. Viele Jahre später, als Tommy bereits erwachsen war und seine Großmutter schon einige Jahre tot, lachten sie immer noch gemeinsam über diesen Spruch, aber ihr rügender Blick fehlte ihnen beiden.
Tommy zündete sich mit zitternden Händen eine weitere Zigarette an. Diese Nacht war allerdings noch dunkler. Gerade zu unnatürlich dunkel. Es musste Vollmond sein, aber die Wolken am Nachthimmel waren so schwarz und dicht, daß nicht ein einziger Lichtstrahl hindurch drang. Er wusste nicht wie lange er hier schon stand, aber es kam ihm vor wie eine Ewigkeit. Tommy musste über die abgenutzte Formulierung lächeln. Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette. Er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt kommen würde.

Den Ort zu finden war nicht allzu schwer gewesen. Das Land war zwar groß, aber es gab im Umkreis nicht gerade viele Kreuzungen, die so weit von allem entfernt waren, dass Tommy selbst in dieser schwarzen Nacht in keine Richtung irgendein Licht eines Hauses erblicken konnte. Trotzdem bedeutete das nicht, dass er auch kommen würde. Schließlich hatte ihm niemand etwas Genaues sagen können. Gerüchte, ja, Gerüchte gab es viele. Aber niemand wollte wirklich etwas wissen. Tommy musste mit vielen Leuten reden, sich lange durchfragen, bis er genug Informationen zusammen hatte, um heute hier zu sein.
Er versuche auf seiner Armbanduhr zu erkennen, wie spät es war. Doch die “Kuh-Arsch-Nacht” war so dunkel, dass er nicht mal die feinen Zeiger seiner Uhr erkennen konnte. Was wenn er zu spät dran war? Wenn er ihn verpasst hatte?
Tommy zwang sich, sich zu beruhigen und nahm noch ein Zug von der Zigarette. Dann trat er sie aus.
In diesem Augenblick schob sich ein Loch in den Wolken auf, genau da, wo der riesige Vollmond am Himmel hing. Schlagartig war es nahezu taghell. Tommy liebte das Licht des Vollmondes. Es war hell genug, um alles zu sehen, aber doch ergoss es sich in einer unwirklichen Stille über alles. Tommy nutzte die Gelegenheit, um noch einmal auf seine Uhr zu schauen. Er atmete erschrocken aus. Es war wenige Sekunden vor zwölf. Natürlich musste das nicht bedeuten, dass überhaupt etwas passieren würde, aber ..
“Hallo, Junge.”
Tommy fuhr erschrocken herum.

Er starrte den Mann an, der im Schutze der Dunkelheit völlig lautlos an ihn herangetreten war. Es war verstörend. Wie sehr er sich auch bemühte, er hätte ihn nicht beschreiben können. Als würden die Stellen, auf die er seinen Blick richtete, verschwimmen oder unscharf werden. Tommy versuchte ihn als Ganzes zu erfassen, dann im Detail. Aber jedes Attribut, dass er hätte verwenden wollen, entwand sich sofort seinem Griff. Er wusste nur, dass alles an seinem Gegenüber ihm eine Heidenangst einjagte.
“Guten Abend, Sir.” brachte Tommy trocken heraus.
Sein Gegenüber lachte. “Meine Güte, ein junger Mann mit Umgangsformen. So was trifft man heutzutage selten.”
Tommy wusste zunächst nicht, was er darauf erwidern sollte.
Dann sagte er “Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, Sir. Mein Großvater hat mir immer gesagt, dass es wichtig ist, anderen stets höflich und respektvoll zu begegnen, so lange sie einem keinen Anlass für etwas anderes geben. Denn nur dann, kann man das selbe auch für sich selbst erwarten.”
Sein Gegenüber nickte. “Klingt, als wäre Dein Großvater ein kluger Mann gewesen.”
“Ja, Sir, das war er in der Tat.”
“Nun, Junge,” sagte der andere und trat einen Schritt auf Tommy zu. “Du weißt genauso gut, warum ich hier bin, wie ich weiß, warum Du hier bist. Also, reden wir nicht lange drum herum. Willst Du den Deal immer noch machen?”
Tommy zögerte. Dann dachte er an seinen Großvater. An die vielen Dinge, die er ihm über das Leben, den Tod, Richtig und Falsch erzählt hatte. Er nickte. “Ja, Sir, das will ich.”
“Dann, wie man es heute so schön ausdrückt,” sagte der andere und streckte ihm seine Hand hin “lass ein Stück Haut rüber wachsen, Bruder!”
Tommy blickte ihn irritiert an. Die Ausdrucksweise des Mannes passte so gar nicht zu seinem undefinierbaren, aber Furcht einflößenden Erscheinungsbild.
Tommy streckte ihm die Hand hin. Der andere ergriff sie. Und blickte ihm in die Augen. Eine unfassbar große Angst ergriff Tommys Herz, von der er nur abgelenkt wurde, weil ihn der Griff des Fremden so irritierte. Er war zu fest für jemanden, der so… dürr?..war. Aber er passte wiederum zu der beklemmenden Ausstrahlung des Mannes. Beklemmend fest. So war auch sein Händedruck.
“Also, Junge,” sagte der Fremde “ich frage Dich noch mal, bist Du bereit, den Deal einzugehen? Denn wenn Du es Dir später anders überlegst, werde ich..” er kicherte “.. den Teufel tun, ihn rückgängig zu machen.”
Tommys Nackenhaare stellten sich auf. Das Kichern des Mannes passte noch weniger zu ihm als seine Ausdrucksweise. Aber gerade deshalb war das Kichern besonders furchtbar. Es war zudem ein Geräusch, das sich mit den Ohren nicht wirklich erfassen ließ, obwohl Tommy es deutlich hörte. Viel zu deutlich für seinen Geschmack.
“Ja, Sir, das bin ich. Ich weiß, was ich tue.”
Jedenfalls hoffte Tommy das inständig.
„Gut. Dann soll es so sein.“ sagte der andere, ließ Tommys Hand aber nicht los. Tommy spürte, wie sie unter dem Griff des Fremden begann warm zu werden. Dann ließ dieser schließlich los.
„Na dann, Junge, Zeit für Dich, die Hosen runter zu lassen, wie man so schön sagt. Ich hoffe, Du hast die Ware dabei.“ Er lachte.
Tommy nickte, überflüssigerweise.
„Du weißt, wie es läuft?“
Tommy schüttelte den Kopf. „Ich habe nur Gerüchte gehört.“
Der andere lachte wieder. „Gerüchte. Oh, ja. Die Gerüchte. Gerüchte sind wie schlechte Gerüche, sie sind überall. Es ist erstaunlich, wie viele Gerüchte es gibt, wenn man bedenkt, dass alle meine Kunden einer Schweigepflicht unterliegen. Aber früher oder später, von Alkohol, Drogen, oder schlicht vom eigenen Genius berauscht, redet immer jemand etwas mehr, als er eigentlich sollte.“
Der Mann wechselte seine Ausdrucksweise ganz nach Bedarf, dachte Tommy.
„Also,“ setzte der andere wieder an „wie bei jedem guten Deal, machen wir es schriftlich. Du schreibst es auf ein Blatt und übergibst es mir. Und das war es dann auch schon.“
Tommy nickte. Das war genau das, was er gehört hatte.
„Du hast nicht zufällig was zum schreiben dabei?“ sagte der andere und klopfte seine Taschen ab. 
Dann kicherte er wieder. „Entschuldige. Aber der Witz hat mir in all der Zeit schon zu viele dumme Gesichter eingebracht, als das ich darauf verzichten könnte.“
Tommy nickte. „Ja Sir, das kann ich mir gut vorstellen.“
Dann griff er in die Tasche und zog ein Notizbuch heraus.
„Allerdings habe ich tatsächlich etwas zum schreiben dabei.“
Der Mann starrte ihn an. „Ach. Na, das hatte ich noch nie. Gut mein Junge, dann los.“
Tommy nickte wieder. „Was soll ich schreiben?“
„Ist mir egal, Junge. Völlig egal. Auf das was kommt es nicht an, sondern auf das wie. Du kannst mir einen Schuldschein ausstellen, den ich dann sofort einlöse, oder von mir aus ein paar Abschiedzeilen schreiben. Du kannst Dosenwurst drauf schreiben, wenn Dir danach ist. Du musst nur mit dem Herzen dabei sein. Du musst es meinen. Du musst es wirklich wollen. Viele schreiben ein paar Zeilen, die ihnen gerade in den Sinn kommen. »Ich habe mit dem Teufel getanzt« ist sehr beliebt, oder »Du hast meine Seele, aber mein Herz gehört mir«.“ Er kicherte.
“Es gab da mal einen Bluesmusiker, der schrieb »You got my soul, but I got the Blues. «Fand ich recht originell. Hatte ich dann später aber noch ziemlich oft, weil er die Zeile in einem sehr beliebten Song verwendet hat. Viele versuchen etwas möglichst originelles zu schreiben. Aber glaub mir, Junge, ich habe schon alles tausend Mal gelesen. Die meisten, schreiben einfach »Meine Seele«. Ist eigentlich das Beliebteste. Vielleicht auch, weil es ihnen in so einem großen Moment an den richtigen Worten fehlt. Mir, Junge, kommt es auf die Worte nicht an. Nur auf Dein Gefühl dabei. Du musst es wollen, das ist entscheidend. Dann überträgt sich Deine Seele auf das Papier. Ansonsten, schreib was Du willst. Ist schließlich Deine Seele. Noch.“ Er kicherte wieder.
“Wenn es beim ersten Mal nicht so recht klappen will, weil Dich vielleicht doch die Angst packt und Dein Herz zuschnürt, hast Du noch zwei weitere Versuche. Danach allerdings ist der Deal hinfällig. Wenn es drei Mal nicht klappt, ist nichts zu holen. Und dann ist der Zug für immer abgefahren und wir sehen uns nie wieder. Niemand macht zweimal Geschäfte mit dem Teufel.“ Er grinste und zuckte mit den Schultern.
Tommy setzte an zu schreiben.
“Aber,“ sagte der andere und das Grinsen verschwand „solltest Du versuchen, mich irgendwie zu bescheißen,“ er senkte die Stimme und sein Blick verfinsterte sich „merke ich das auf jeden Fall. Und dann, Junge, greife ich Dir durch den Hals in die Brust und reiße Dir die Gabe mitsamt Deinen Eingeweiden zum Arschloch wieder raus. Danach lasse ich Dich hier verrecken und wir sehen uns bei mir zu Hause, wo ich Dich auf einen Bratspieß stecke, zusammen mit all den anderen Idioten, die auch versucht haben, mich zu bescheißen. Alles klar?“
Tommy nickte. Er hatte zwar Schwierigkeiten, sich den beschriebenen Gewaltakt bildlich vorzustellen, aber es gab keinen Zweifel, dass sein Gegenüber es genau so meinte. Dann ging er auf ein Knie und begann in sein Notizbuch zu schreiben.

„Friss Scheiße, Motherfucker!“ rief der Teufel plötzlich.
Tommy fuhr zusammen. „Was? Wieso? Ich…“
Der Teufel lachte. „Das hat mir auch mal einer geschrieben, war eigentlich das originellste bisher. Nicht sehr höflich formuliert, zugegeben, kam aber von Herzen. War auch eine ziemlich dunkle Seele, einer von diesen harten Rockmusikern, die heute so angesagt sind. Kennst Du sicher, ist ´ne ziemlich große Nummer geworden. Aber,“ er zwinkerte Tommy verschwörerisch zu „das sind alle, die den Deal mit mir gemacht haben. Entschuldige, ich wollte nicht stören. Schreib Du nur.“
Tommy nickte und setzte wieder an zu schreiben.

Es verstrichen einige Minuten, in denen keiner der Beiden etwas sagte. Schließlich räusperte sich der Teufel.
„Sag mal, Junge, dauert das noch länger?“
Tommy blickte auf.
„Ja, ich denke, einige Minuten wird es noch in Anspruch nehmen. Ich hoffe, das ist in Ordnung?“
Der Teufel hob abwehrend die Hände.
„Nimm Dir die Zeit die Du brauchst. Ich habe mich nur gewundert. Meistens brauchen meine Kunden einfach nur weit weniger lange.“
Tommy nickte kurz und schrieb weiter.
Schließlich erhob er sich. Er riss das Blatt ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen aus seinem Notizbuch und reichte es dem dunklen Fremden.
Der nahm es, warf einen Blick darauf und ließ es wieder sinken.
„Sag mal, Junge, willst Du mich hier verarschen? Was ist das?“
Er hielt Tommy das Blatt hin. Es war beidseitig eng beschrieben. Ohne jede Streichung oder Korrektur, in gestochen scharfen Druckbuchstaben.
„Das,“ sagte Tommy und nickte in Richtung des Blattes „ist die Ware. Gibt es damit ein Problem?“
„Noch nicht.“ knurrte der Teufel. „Aber vielleicht ja gleich.“
Er nahm das Blatt wieder hoch und begann zu lesen.

__

Der alte Pick-Up kam am Rand der staubigen Landstraße neben dem Anhalter zum Stehen.
“Guten Morgen, Sir!”
“Steig ein, mein Sohn!” sagte der Alte, als der junge Mann die Beifahrertür seines Trucks öffnete.
“Vielen Dank, Sir!” sagte er und kletterte auf den Sitz.
“Darf ich fragen, mit wem ich das Vergnügen der Reise teile?” fragte der alte Mann und grinste.
“Thomas ist der Name, Sir. Thomas Scott. Aber meine Freunde nennen mich Tommy.”
“Sehr erfreut, Tommy. Ich bin Abraham Brown. Meine Freunde nennen mich Abe.”
“Vielen Dank, dass Sie mich mitnehmen, Abe. Mein Großvater hieß übrigens auch Abraham.”
“Tatsächlich?” Der Alte lachte. “Nun, Dein Großvater war sicher ein gutaussehender und sehr kluger Mann, nicht wahr?!” Er lachte erneut.
“Oh, das war er tatsächlich,Sir. Nochmals, vielen Dank. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass hier so schnell jemand vorbeikommen würde.”
Der Alte nickte. “Ja, da kannst Du tatsächlich von Glück sagen, hier draußen ist nämlich nicht viel Verkehr. Aber, sag mal Tommy, was hattest Du denn da draußen verloren, mitten im Nirgendwo. Hat Dich jemand an der Kreuzung rausgesetzt? Wenn Du die Frage gestattest.”
Der junge Mann schwieg einige Sekunden.
Dann sagte er “Natürlich, Sir. Nein, mich hat niemand dort rausgeworfen. Ich musste gestern um Mitternacht an dieser Kreuzung sein, um dem Teufel meine Seele zu verkaufen.“

Der Alte sah Tommy überrascht an, dann blickte er wieder nach vorn. Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Tommy sah aus dem Fenster. Links und rechts der staubigen Landstraße, erstreckte sich kilometerweit nichts anderes, als die Weite bereits abgeernteter Maisfelder. Weit und breit war sonst nichts zu sehen. Kein Baum, kein Strauch und kein Haus. Nur Weite und vor ihnen die schnurgerade Straße.
Dann räusperte sich der Alte. “Tatsächlich. Das ist ja interessant. Vielleicht kannst Du mir dann eine Frage beantworten, Tommy, die ich mir schon immer gestellt habe. Wie sieht der Teufel eigentlich aus?”
Der junge Mann sprach, ohne seinen Blick von den Feldern zu nehmen, die an ihnen vorüber zogen.
“Er ist groß und hager. Er trägt einen schwarzen Anzug, mit schwarzem Hemd und schwarzer Krawatte. Trotz seiner hageren Erscheinung strahlt er eine ungeheuer brutale Kraft aus. Er hat feingliedrige, sehr gepflegte Hände, mit langen Fingern, die aber aussehen, als könnten sie einen erwachsenen Mann mühelos in zwei Hälften reißen. Seine Haare sind schlohweiß. Und in seinem blassen, scharf geschnittenem Gesicht war zu lesen, das er in allen Nächten, aller Zeitalter, an allen Kreuzungen dieser Welt gestanden hatte, um armen Schweinen ihre Seele abzukaufen. Wenn er kichert, klingt es, als würden tausende gequälter Seelen übereinander gelegt in einem schalltoten Raum erklingen. Sein Kichern fährt einem durch alle Knochen und nach dem ersten Mal glaubt man, es kein zweites Mal ertragen zu können, ohne den Verstand zu verlieren. Seine Augen sind weiß, ohne Iris, und haben nur eine winzige schwarze Pupille. In diesen Augen habe ich in nur einer einzigen Sekunde alles erblicken können, wovor ich mich jemals in meinem Leben gefürchtet habe.”
Der Alte schluckte hörbar. Dann schwiegen sie wieder.

Schließlich setzte der Alte wieder an. “Das,.. das klingt ziemlich beängstigend, mein Sohn.”
“Oh, das war es, Sir. Ich habe nie zuvor in meinem ganzen Leben so große Angst gespürt. Oder könnte es jemals wieder.”
“Aber sag mal, wofür hast Du denn eine solche Begegnung auf Dich genommen? Was hat Dir der Teufel für Deine Seele gegeben?”
Tommy sah wieder aus dem Fenster.
“Er gab mir die Fähigkeit, richtig gut schreiben zu können.”
Der Alte sah ihn erstaunt an. “Aber, mein Sohn, dafür hast Du dem Teufel Deine unsterbliche Seele verkauft?”
Der junge Mann schwieg einige Sekunden und sah weiterhin aus dem Fenster. Dann antwortete er.
“Wissen Sie, Sir, mein Großvater pflegte immer zu sagen »Eine gute Geschichte kann mehr Seele besitzen, als die meisten Menschen.«“
Er schwieg einen Moment.
“Also,” sagte er dann und blickte den alten Mann direkt an “sagen Sie mir, Abraham, wenn nicht dafür, wofür denn dann?”

__

Der Teufel ließ das Blatt Papier sinken. Dann sah er Tommy lange an.

„Kompliment, Junge. So was,“ er hielt das Blatt hoch „hat mir wirklich noch keiner geschrieben. Außerdem hat mich auch noch nie jemand auch nur vage beschreiben können. Deine Beschreibung aber.. “ erschüttelte langsam den Kopf „.. könnte von meinem Garderobenspiegel höchstpersönlich stammen. Ich fühle mich direkt ein bisschen geschmeichelt. Na ja, eigentlich sollte ich nicht überrascht sein. Schließlich bist Du mein erster Schriftsteller überhaupt. Und die, wie man so hört, ticken ja bekanntlich etwas anders.“
Er grinste. „Na, dann wollen wir uns die Ware mal genauer ansehen. Obwohl, und das darfst Du als erste überschwängliche Kritik von vielen in Deiner künftigen Karriere ansehen, ich hieran keine großen Zweifel hege.”
Er hielt das Blatt hoch gegen das Licht des Mondes und warf einen prüfenden Blick darauf. Nach einigen Sekunden wurden die Buchstaben rötlich, dann glühten sie auf dem Papier, das kurz darauf begann an den Rändern braun zu werden. Schließlich ging das Blatt in Flammen auf. Als es verbrannt war, schwebten große Ascheflocken durch die Nachtluft.
Der Teufel leckte sich den Ruß von den Fingern und schnalzte anerkennend mit der Zunge. Dann nickte er.
“Das war’s. Alles bestens. Starke Ware, Deine Seele. Astreiner Stoff.”
Er pfiff durch die Zähne. Dann lachte er. “Du entschuldigst, aber ich habe einen Faible für die Sprache der jungen Leute heutzutage. Die hat einfach Pfiff.“
Tommy nickte. „Ja, Sir, ist mir schon aufgefallen. Sprache ist aber auch etwas wunderbar Vielseitiges.“
„Na, Du musst es ja wissen. Aber, “ er sah Tommy durchdringend an „eines möchte ich Dich noch fragen. Aus reiner Neugier.“
„Ja, Sir?“
„Schriftsteller, mein Junge? Du hättest alles haben können, alles sein können. Dich als Rockstar vor Tausenden feiern lassen können, wilde Alkoholexzesse feiern, Hotels verwüsten und Dich selbst noch dafür feiern lassen können. Groupies ohne Ende. Du hättest so ein Schmonzetten-Sänger werden können, dem die Frauen zu Füßen liegen. Mehr Pussys, als Du in Deinem ganzen Leben hättest vögeln wollen. Reichtum, Bekanntheit, Freiheit. Weißt Du, wie viele wirklich begnadete Schriftsteller arm, allein und unbekannt gestorben sind? Überhaupt erst bekannt wurden, nur weil nach ihrem Tod jemand beim Ausmisten ihrer Bude über ihre Manuskripte gestolpert ist? Also, warum Schriftsteller?“
Tommy sah dem Teufel lange in die Augen.
Schließlich sagte er: „Nun, was die Frauen betrifft, Sir, ich habe bereits ein Mädchen. Sie ist die Einzige für mich.”
Der Teufel schnaubte verächtlich durch die Nase.
“Und was alles andere angeht, ” fuhr Tommy fort “seit ich ein Kind war, hat mein Großvater mir Geschichten erzählt. Anfangs selbst ausgedachte, später hat er mir vorgelesen. Als ich schon fast erwachsen war, haben wir abends gemeinsam im Wohnzimmer oder auf der Veranda gesessen und gelesen. Gute Passagen haben wir uns gegenseitig vorgelesen und später die Bücher getauscht. Und mein ganzes Leben lang habe ich mir nichts mehr gewünscht, als selbst solche Geschichten schreiben zu können. Und außerdem,“ Tommy zuckte mit den Schultern „lässt sich eine gute Geschichte auch verkaufen.“

Der Teufel sah ihn ein paar Sekunden wortlos an.
Dann zuckte auch er mit den Schultern. „Ich habe mich einfach nur gewundert, Junge. Es war Deine Seele und es ist Dein Leben. Du kannst damit anstellen, was Du willst. Viel Spaß damit.“
Tommy nickte. „Danke Sir. Es hat mich gefreut, mit Ihnen Geschäfte zu machen.“
„Mich auch, mein Junge, mich auch. Mach was draus. Du siehst mich und Deine Seele erst wieder, wenn Deine Zeit abgelaufen ist. Dann kannst Du uns berichten, wie es Dir ergangen ist. Vielleicht, bei einem hübschen Barbecue.“ Er kicherte.
„Sieh nur, der gute alte Kumpel Mond gibt auch sein Okay für unseren Deal.“
Tommy sah nach oben. Der Vollmond hatte eine rötliche Färbung angenommen. Als Tommy seinen Blick wieder senkte, war er allein.

Tommy griff in die Tasche und holte seine Zigaretten heraus. Er steckte sich eine an. Diesmal zitterten seine Hände nicht.
In diesem Moment schoben sich die Wolken wieder vor den Mond und Tommy stand in der Dunkelheit.
Ein Schriftsteller ohne Seele, dachte Tommy und schüttelte traurig den Kopf. Hatte man so was schon gehört? Das mochte ja vielleicht für gewisse Musiker funktionieren, aber was sollte ein Schriftsteller mit der Gabe, wenn er keine Seele besaß? Nun, eines war jedenfalls sicher. Seinen Teil des Deals hatte der Teufel eingehalten. So wie es aussah, konnte Tommy jetzt wirklich alles schreiben. »Eine gute Geschichte kann mehr Seele besitzen, als die meisten Menschen.« Wie recht sein Großvater doch behalten hatte.

„Friss Scheiße, Motherfucker!“ sagte Tommy und er und seine Seele lachten gemeinsam laut in der Dunkelheit.

Beste Freundinnen

Als Hannah den kleinen Spielplatz betrat, blieb sie einen Augenblick stehen. Eigentlich durfte sie nicht herkommen, aber sie mochte den Spielplatz neben dem alten Friedhof viel zu gern, als dass sie sich daran gehalten hätte.
Er war anders als andere Spielplätze. Er war nicht so neu, nicht so offen. Hier gab es überall Sträucher und kleine Hecken mit guten Versteckmöglichkeiten. Selbst zwei alte, aber kleingewachsene Bäume standen darauf, auf die man wunderbar klettern und in ihren Ästen sitzen konnte. Und wenn man dort oben saß, konnte man über die Mauer auf den alten Friedhof blicken, der dahinter lag. Hannah mochte auch den alten Friedhof. Oft dachte sie, dass es schön war, dass so viele Menschen an einem Platz zusammen sein konnten und es trotzdem so still war. Der alte Friedhof war anders als der Rest der Welt.
Genau wie der Spielplatz. Den Spielgeräten konnte man ansehen, dass schon viele Kinder auf ihnen ihren Spaß gehabt hatten. Hier gab es keine Betonröhren oder irgendwelche eisernen Drehkarusselle. Hier gab es ein Klettergerüst, Wippen und Holzbalken, auf denen man balancieren konnte. Und Schaukeln. Neun Schaukeln, immer drei neben einander an einem Gerüst. Und dann, natürlich, Hannahs Schaukel. Für sie war es “ihre” Schaukel. Die anderen Kinder schaukelten nie darauf, wahrscheinlich, weil sie als einzige alleine hing, und zwar ziemlich weit hinten, in der Nähe der Friedhofsmauer. Hannah war nicht gerne mit vielen Menschen zusammen. Sie war gern allein. Aber trotzdem, sie hätte gern eine Freundin gehabt. Eine beste Freundin. Eine, die nur ihre Freundin war. Dann könnten sie immer zusammen herkommen und schaukeln. Über Dinge reden.

Ein Geräusch lenkte Hannah von ihren Gedanken ab. Das leise Quietschen von Ketten. Hannah erschrak und blickte in Richtung ihrerSchaukel. Und tatsächlich, über ein paar Büsche hinweg sah sie, daß sich die Ketten der Schaukel bewegten. Hannah spürte, wie sie zornig wurde. So viele Schaukeln, dachte sie, und ausgerechnet auf ihrer Schaukel musste jemand schaukeln? Das würde sie nicht dulden!
Hannah erschrak über ihren Zorn. Sie war oft zornig, wahrscheinlich, weil sie so oft allein war. Manchmal machte sie dann sogar Dinge kaputt. Vielleicht saß da nur jemand auf ihrer Schaukel, der genau so allein war wie sie? Vielleicht jemand, der sich auch einfach nur eine Freundin wünschte? Hannah wurde für einen Moment ganz aufgeregt bei dem Gedanken. Sie trat um die Büsche herum.

Auf der Schaukel saß ein Mädchen. Hannah war sich sicher, es noch nie gesehen zu haben. Sie hatte Hannah noch nicht bemerkt, weil sie ihren Blick zu Boden gerichtet hatte. Sie trug ein schlichtes graues Kleid und hatte dunkles Haar, das zu zwei Zöpfen geflochten war. Hannah betrachte sie eine Weile, unfähig etwas zu sagen. Dann traute sie sich.
“Hallo” sagte Hannah leise.
Das Mädchen stoppte die Schaukelbewegung abrupt und sah Hannah erschrocken an. Sie hatte große dunkle Augen und ein sehr blasses Gesicht. Sie sagte nichts.
“Entschuldige, ich wollte Dich nicht erschrecken.” sagte Hannah ” Ich wollte nur mal sehen, wer da auf meiner Schaukel sitzt.”
Hannah schämte sich sofort für ihre Worte. Natürlich war das ja nicht wirklich ihre Schaukel.
Das Mädchen sah sie weiterhin aus großen Augen wortlos an.
“Ich hab Dich hier noch nie gesehen.” sagte Hannah.
“Ich komme oft her, ” sagte das Mädchen leise “aber meistens, wenn keiner hier ist. Ich bin gern allein.”
Hannahs Herz machte einen Hüpfer.
“Ich auch. ” sagte sie etwas hastig “Ich habe aber auch keine Freundin, mit der ich herkommen könnte.”
Das Mädchen sah sie wieder wortlos an.
Hannah ärgerte sich sofort über ihre Worte. Das klang schrecklich aufdringlich. Sie beschloss, das Thema zu wechseln.
“Ich bin Hannah, ” sagte sie ” Hannah Ahrens. Und wie heißt Du?”
Das Mädchen sah sie weiter wortlos aus ihren dunklen Augen an. Ihr Gesicht war wirklich sehr blass, dachte Hannah, schon fast, als wäre sie krank. Einen Augenblick lang dachte Hannah, das Mädchen würde ihr nicht antworten.
Dann sagte sie “Ich heiße Lisa. Lisa Weber. Eigentlich heiße ich Elisabeth, aber alle nennen mich Lisa.”
“Hallo Lisa. Ich freue mich dich kennen zu lernen.”
Sie sahen aneinander wieder wortlos an. Irgendetwas war seltsam an diesem Mädchen, dachte Hannah. Sie selbst war auch sehr schüchtern, aber so wie dieses Mädchen, so verhielt sich doch niemand.
“Ich… ich muss jetzt gehen.” sagte das Mädchen plötzlich. Dann stand sie von der Schaukel auf. “Dann kannst Du auch auf deine Schaukel.” sagte sie.
“Nein! Warte!” rief Hannah, fast schon etwas zu laut “Das ist nicht meine Schaukel. Sie ist nur,… ich meine, ich bin… Bitte, bleib. Du kannst gerne weiter schaukeln.”
Doch das Mädchen schüttelte mit dem Kopf, daß ihre dunklen Zöpfe flogen, und lief dann zu der alten Mauer, an die der Friedhof grenzte. Sie setzte geschickt Hände und Füße in die Mauerspalten und kletterte nach oben.
“Warte!” rief Hannah “Wieso gehst Du über die Friedhofsmauer?”
Das Mädchen blieb kurz oben auf der Mauer sitzen und sah Hannah an. Dann sagte sie leise “Das ist der kürzeste Weg.” und sprang auf der anderen Seite hinunter.
Hannah stand verdutzt allein auf dem Spielplatz. Der kürzeste Weg nach Hause führte über den Friedhof? Komisch. Dann fiel ihr ein, daß sie Lisa gar nicht gefragt hatte, wann sie das nächste Mal wieder herkommen würde. Schnell lief sie zu der alten Mauer.
Als sie auf der anderen Seite ankam, sah sie sich um. Weiter vorn, zwischen den Grabsteinen, sah sie mit fliegenden Zöpfen Lisa laufen. Schnell lief sie ihr hinterher. Nach ein paar Metern hielt sie an. Was dachte sie sich nur dabei? Vielleicht wollte Lisa gar nicht ihre Freundin sein. Der Gedanke, sie mit ihrer Aufdringlichkeit verschreckt zu haben, ließ Hannah wieder zornig werden. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Und was dachte sie sich dabei, ihr hinterher zu laufen?
Hannah beruhigte sich wieder. Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Sie könnte Lisa ja nachgehen und sehen, wo sie wohnte. Und dann könnten sie sich vielleicht mal ganz zufällig vor Lisas Haus wieder treffen. Und doch Freundinnen werden. Beste Freundinnen sogar.
Hannah schaute auf. Weiter vorn war Lisa zwischen den Grabsteinen stehen geblieben und sah sich um, als müsste sie sich orientieren.
Schnell versteckte sich Hannah hinter einem großen Grabmal. Jetzt bloß nicht erwischen lassen, wie sie Lisa nachschlich, dachte sie. Das wäre wirklich peinlich. Sie sah nach oben.
Über ihr, auf dem großen Grabmal, ragte ein schwarzer Engel auf, der auf sie herab sah. Hannah blickte auf den Stein. 

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Hans-Heinrich Engelmann
03.07.1777-21.06.1866

Wilhelmine Engelmann
19.04.1782-21.06.1866

Ewige Liebe, über den Tod hinaus.

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Am selben Tag gestorben, dachte Hannah, das war wirklich ewige Liebe.
Was ihr noch auffiel, war das Alter des Grabmals. Hanna wusste, dass normale Gräber nach 50 Jahren entfernt wurden, um die Plätze neu zu belegen. Nicht jedoch die großen Grabmale. Noch im Tod war entscheidend, ob man im Leben Geld hatte, dachte Hannah traurig. Der Tod macht eben doch nicht alle gleich.
Sie stand auf und lugte um das Grabmal herum, um zu sehen, was Lisa machte. Enttäuscht stieß sie die Luft aus. Lisa war nirgendwo zu sehen.
Sie stand auf und ging in die Richtung, in der sie sie zuletzt gesehen hatte.
Als sie dort ankam, sah sie sich um. Lisa konnte sie nirgendwo entdecken. Der Friedhof hatte drei Ausgänge, an jeder Seite einen, mit Ausnahme der Süd-Mauer, die an den Spielplatz grenzte. Aber in welche Richtung mochte Lisa gelaufen sein?
Plötzlich hörte Hannah das Nordtor quietschen, als würde es geöffnet. Sie konnte es nicht sehen, weil es durch Büsche und Bäume verdeckt war. Nach einer Weile kam auf dem Weg zwischen den Büschen eine alte Frau mit einer Gießkanne heraus. Nur eine blöde alte Frau, dachte Hannah enttäuscht. Was dachte dieses alte Weib sich dabei, ihr solche Hoffnungen zu machen?
Der West-Eingang war Hannah am nächsten. Nun, es konnte doch nichts schaden mal durch die Pforte zu spähen, ob Lisa vielleicht davor auf der Straße spielte, oder? Vielleicht musste sie dann gar nicht bis morgen warten und sie konnten doch noch heute Freundinnen werden.
Hannah schlenderte in Richtung des Tors.
Dieser Teil des Friedhofs war etwas Besonderes, das wusste Hannah. Deswegen waren die Gräber, obwohl sie über 50 Jahre alt waren und nur sehr schlicht, auch alle noch da.
Hier waren 280 Menschen begraben, die in einer Februarnacht kurz vor Kriegsende in einem Luftschutzbunker gestorben waren. 280 Menschen, die Hälfte davon Kinder, in einem Raum, der nur für 100 Menschen gebaut worden war. Qualvoll erstickt als der Eingang des Bunkers verschüttet wurde. Hannah erschauderte bei dem Gedanken daran und die Ungerechtigkeit dieses Unglücks ließ sie wieder wütend werden.
Was für ein Gott war das, der zuließ, daß so etwas geschah? Sie dachte an die Enge, die Dunkelheit, die Hilfeschreie und das Weinen der Kinder. Über Stunden, bis es schließlich immer leiser wurde und dann für immer verstummte.
Sie schauderte wieder. Wie sehr wünschte sie sich eine Freundin, mit der sie über so etwas reden konnte. Ja, wenn sie nur eine Freundin wie Lisa hätte, würde sie bestimmt auch nicht mehr so oft zornig werden, da war Hannah sicher.
Sie sah sich um. Ihre Füße hatten sie zu Reihen getragen, die noch mal etwas anders aussahen, als die anderen. Hier waren die Steine nur kleine Platten und lagen flach auf dem Boden. Hier waren die Kinder begraben, die damals gestorben waren. Der Gedanke an die vielen Kinder, die niemals hatten erwachsen werden dürfen, machte Hannah traurig. So viele ungelebte Leben.
Auch darüber würde sie mit Lisa reden können, wenn sie erstmal beste Freundinnen waren.
Ein Gedanke ließ sie zusammenfahren. Was, wenn Lisa bereits eine Freundin hatte? Womöglich sogar eine beste Freundin? Dann, dachte Hannah, jetzt wieder wütend, würde sie eben eine bessere beste Freundin sein. Die beste beste Freundin überhaupt, so daß Lisa gar keine andere Freundin neben ihr brauchen würde. Ja. Genau so würde es sein, dachte Hannah zufrieden.
Ihr Blick fiel nach unten auf die Grabplatte, neben der sie stehen geblieben war.
Was für ein komischer Zufall das war, dachte sie, als sie den Namen las. Sie sah sich um. Die Reihen mit den Grabplatten für die Kinder waren lang, immerhin waren es fast 140 Stück. Seltsam, daß sie ausgerechnet genau neben dieser stehen geblieben war. Sie las die schmucklose Inschrift erneut.

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15.08.1935 – 23.02.1945

Hannah Ahrens

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Nun, dachte Hannah, wenn sie schon hier war, konnte sie auch gleich bis morgen bleiben. Aber morgen würde sie auf dem Spielplatz auf Lisa warten, sie nach Hause begleiten und sie würden beste Freundinnen werden. Dann würde Hannah nie wieder zornig werden müssen und Dinge zerstören oder anderen weh tun.
Ja, beste Freundinnen für immer. Nur sie zwei. Für immer und immer und immer, dachte Hannah, und heiße Wellen der Vorfreude und des Zorns durchliefen sie.

(April 2014)

Im Keller

Unkontrolliert zitternd stand er am Fuß der Treppe. Wie sehr er es auch versuchte, er konnte keinen einzigen Schritt in die Dunkelheit machen. Er blickte nach oben, zum vagen Rechteck des Lichtspalts. Die Tür war hinter ihm geschlossen worden. Er war sich sicher, daß sie abgeschlossen war. Doch selbst wenn nicht, hätte er keinen Fuß auf die Treppe setzen können. Er zitterte immer noch am ganzen Körper. Sieben Jahre hatte er den Keller nicht betreten. Zu groß war die Angst vor dem, was er hier versteckt hielt. Wie als Antwort auf seinen Gedanken, glaubte er, es hinten in der Ecke leise klappern zu hören. Er erstarrte innerlich. Doch auch nach einigen Minuten, die er in die Dunkelheit gelauscht hatte, war nichts mehr zu hören. Er schalt sich selbst einen Narren. Was hatte er geglaubt, was passieren würde, wenn er diese Tür nach so vielen Jahren öffnete? Er zwang sich einen Schritt nach vorn. Dann noch einen. Seine Hand tastete in Kopfhöhe nach der Zugschnur, die er dort vermutete. Nichts. Er machte einen weiteren Schritt und erstarrte. War da wieder dieses Klappern gewesen? Er blieb einige Minuten regungslos stehen.

In den letzten Wochen hatte ihn die Tür wie magisch angezogen. Zunächst nur seinen Blick, dann hatte er im Vorübergehen hin und wieder mit der Hand die Klinke gestreift. Den Schlüssel immer in der Tasche. Immer wieder musste er ihn tagsüber ertasten, sicher gehen, daß er da war. Immer wieder.

Doch jetzt tastete er erneut nach der Schnur. Als er sie fand, erwachte die nackte Glühbirne unter der Decke mit einem trockenen Klicken zum Leben. Doch selbst im spärlichen Licht der 20 Watt Birne lagen große Teile des Kellers im Dunkel. Er blickte ängstlich in die Ecke, aus der er das Klappern vernommen zu haben glaubte. Er wusste, daß sie dort war. Doch wie konnte sie nach so vielen Jahren am Leben sein? Das Zittern setzte wieder ein. Er zwang sich einen weiteren Schritt nach vorn.

Als er die Tür schließlich das erste mal aufgeschlossen hatte, hatte er sie nur einen Spalt breit geöffnet. Der vertraute Geruch, der ihm entgegen geschlagen war, hatte ihn die Tür sofort wieder schließen lassen. Die Erinnerungen kamen wie eine Welle. Danach war er tagelang nicht wieder an die Tür gegangen. Doch sie flüsterte. Sie lockte. Rief schließlich. Sie kroch in sein Denken, bis sie seinen Kopf fast zum Platzen gebracht hatte. Er musste sie wieder öffnen. Danach, hatte er die Tür immer häufiger geöffnet. Nur einen Spalt breit, um die Bilder der Vergangenheit zu empfangen, die mit dem Geruch aus dem Keller zu ihm aufstiegen. Schließlich verbrachte er halbe Tage an der Tür. Zwischen dem Öffnen mit dem Rücken daran gelehnt, die Augen geschlossen, lauschte er den Erinnerungen der vertrauten Gerüche. Der Wunsch nach ihr zu sehen wurde übermächtig. Doch hinunter zu gehen, das war unmöglich. Bisher.

Er blickte wieder in ihre Ecke. Obwohl seine Augen sich inzwischen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, konnte er nichts erkennen. Er machte zwei Schritte darauf zu. Langsam schälte sich etwas aus dem Dunkel.

Und dann? Dann hatte er es nicht mehr ausgehalten. Vor wenigen Minuten, die ihm inzwischen wie eine Ewigkeit unter die Haut gekrochen waren, hatte er die Tür ganz geöffnet. Hatte am oberen Ende der Treppe gestanden, und in die Dunkelheit gestarrt. Was dann geschehen war, konnte er sich nicht erklären. Er hatte gespürt, nicht einmal gehört, wie jemand hinter ihn getreten war, lautlos wie ein Schatten. Doch bevor er sich umdrehen konnte, hatte er einen wuchtigen Stoß in den Rücken bekommen. So stark, daß er, ohne eine Möglichkeit sich festzuhalten, die Holztreppe in den Keller hinunter stürzte. Noch bevor er auf die Füße kommen konnte, hörte er, wie oben die Tür wieder zugeworfen wurde und er hatte sich in der Dunkelheit des Kellers wiedergefunden. Mit ihr.

Er machte zwei weitere Schritte auf die Ecke zu. Dann noch einen. Da war sie. Genau dort, wo er sie vor sieben Jahren zurück gelassen hatte. Sie war so wunderschön. Sie sah aus wie an jenem Tag. Wie an jedem Tag, den sie gemeinsam verbracht hatten. Wie war das möglich? Ein Schauer überlief ihn. Sieben Jahre hatten sie sich nicht gesehen. Kein Wort gewechselt. Keine Berührungen ausgetauscht. Wie hatte er sie nur hier unten zurück lassen können? Und doch lag in ihrem Blick kein Vorwurf. Im Gegenteil. Er war sicher, sie nicht so zurück gelassen zu haben. Trotzdem sah er, daß in ihre Walze ein Blatt eingespannt war. Sieben Worte waren darauf getippt. Sieben Worte, für sieben Jahre.

Es ist gut, daß Du zurück bist.

Seine Hände fingen an unkontrolliert zu zittern. Er trat zu ihr, zwang sich, seine Finger auf ihre Tastatur zu legen. Das Zittern erstarb augenblicklich. Ja, dachte er, es war gut. Er zog sich den Stuhl ran, setzte sich, und begann in der Dunkelheit zu schreiben.

Überlebensstrategie

Er sah zur Uhr am Bahnsteig. Noch 10 Minuten. Er wartete bereits etwas mehr als eine halbe Stunde. Vor lauter Sorge, er könnte beim Eintreffen des Zuges nicht am Gleis sein, war er viel zu früh losgefahren. Aber das machte ihm nichts aus. Er hatte schon so lange auf sie gewartet, da kam es auf diese dreiviertel Stunde auch nicht mehr an. In Gedanken war er sowieso die ganze Zeit nur bei ihr. Versonnen betrachtete er den Strauß Rosen in seiner Hand. Tiefrot. Fast blutrot. Die Farbe der Liebe. Und des Lebens. Und wie sehr er sie doch liebte.Er sah den Bahnsteig hinunter. Er war menschenleer. Der Zug, mit dem sie kam, war der letzte, aber auch tagsüber war auf diesem kleinen Bahnhof vor der Stadt nicht sehr viel mehr los. Die meisten Passagiere stiegen kurze Zeit später am Hauptbahnhof aus.
Er blickte in die andere Richtung. An einer Ecke eines Nebengebäudes des Bahnhofs stand eine Dreiergruppe im Halbdunkel. Vielleicht Jugendliche, die am Samstag Abend in die Stadt fahren wollten. Jedenfalls hoffte er, daß es so war. Dies hier war keine ganz ungefährliche Ecke, das wusste er aus der Zeitung. Die Arbeitslosigkeit in den Vorstadtbezirken war hoch, es waren viele Drogen im Umlauf und immer wieder kam es zu Überfällen. Sehr gewalttätigen Überfällen. Er meinte sogar sich zu erinnern, daß vor ein paar Monaten ein Mann dabei zu Tode gekommen war. Die Angreifer hatten sich, vermutlich aus Wut darüber, daß er sich gewehrt und einen von ihnen verletzt hatte, nicht damit zufrieden gegeben, ihn zusammenzuschlagen und auszurauben, sondern ihm, als er am Boden lag, wiederholt auf den Kopf getreten, so daß er an einem Schädeltrauma gestorben war.
Er schüttelte den Kopf. Was für eine Welt. Aber so etwas würde heute hier nicht passieren. Heute hatte er eine Verabredung.
Doch immer, wenn man sich seiner Sache sicher ist, kommt das Schicksal um die Ecke und erhebt Einspruch.
Dieses mal kam es in Form der Dreiergruppe, die sich aus dem Halbdunkel löste, und langsam in seine Richtung kam.
Er hätte sich gern eingeredet, daß sie harmlos waren und nur zum Gleis gingen weil der Zug bald eintraf, aber das wäre naiv gewesen. Naiv, dumm und gefährlich. Die drei strahlten den nahenden Ärger förmlich aus. Es war die Art von dunklen Gestalten, die wollten, daß man ihnen ihre Gefährlichkeit ansah. Unbestimmbarer ausländischer Typ, finstere Gesichter, kurzrasierte dunkle Haare und auch ihre Jacken konnten nicht verbergen, daß sie Kraftsport betrieben. Sollten sie auch gar nicht. Im Gegenteil. Fast schon klischeehaft. Nun ja, so ein Klischee entstand ja auch nicht einfach aus dem Nichts heraus.

An jedem anderen Abend hätte es ihm nichts ausgemacht. Er hätte ihnen widerspruchslos Portemonnaie und Smartphone ausgehändigt und wäre vielleicht ohne Gewaltanwendung davon gekommen. Diese Dinge konnte man ersetzen. Aber nicht heute Abend. Heute hatte er eine Verabredung. Und er hatte dafür etwas Besonderes dabei. Etwas Unersetzliches. Ein Liebespfand. Und das würde er auf keinen Fall hergeben.

Er atmete durch. Es war nicht so, daß er nicht bis zu einem gewissen Maße für eine solche Situation gewappnet gewesen wäre. Er hatte sich im Laufe seines Lebens immer wieder mit den verschiedenen Möglichkeiten der körperlichen Auseinandersetzung beschäftigt. Sowohl praktisch, als auch theoretisch. Er hatte es nie zu irgendeiner Meisterschaft in einer der verschiedenen Kampfsportarten gebracht, an denen er sich aus Interesse kurzeitig versucht hatte, aber zumindest hatte er ein grobes Verständnis dafür bekommen, worum es dabei ging. Auch über den Rahmen des sportlichen Wettkampfs hinaus. Das allerdings waren rein theoretische Gedanken, die er für sich weitergedacht hatte.
Er seufzte. Die Gruppe hatte bereits den halben Weg zu ihm zurückgelegt. Wenn er die Männer richtig einschätzte, war kaum mit der Option der Deeskalation zu rechnen. Er drehte ihnen den Rücken zu, als würde er die Uhrzeit auf der großen Uhr am Gleis überprüfen. In solch einer Situation war es wichtig, möglichst harmlos, arglos und unvorbereitet zu wirken. Kein Vorteil war größer als der, unterschätzt zu werden. Ihm war klar, daß er in seinem grauen Anzug, mit einem großen Strauß Rosen in der Hand zwar einen feschen, sicher aber keinen gefährlichen Eindruck hinterließ. Ein leichtes Opfer, vermutlich nahezu wehrlos, aber sicher mit Geld. Er zog mit der rechten Hand seinen Schlüsselbund aus der Tasche seiner Anzughose und platzierte ihn so, daß sich nur noch sein Autoschlüssel in der Tasche befand, der Rest des Schlüsselbundes aber gut erreichbar nach vorne heraus hing. Dann verdeckte er den Schlüssel wieder mit seinem Jackett.
Er erinnerte sich an die drei wichtigsten Dinge in solch einer Situation. In Sicherheit wiegen. Den Gegner ablenken. Überraschend und so hart wie möglich zuschlagen. Wie hieß es bei einem seiner Lieblings-Schriftsteller?
“Halte das Tier zurück, bis Du es brauchst. Es wird kommen, wenn Du es rufst. Lass es für Dich kämpfen. Das Tier kämpft nicht fair. Das Tier will töten.” 

Nun ja, in der Literatur klang das recht einfach. Wie sich das in der Praxis gestaltete, hatte er noch nie herausfinden müssen. Aber es stimmte. Fairness oder falsche Zurückhaltung waren in einer wirklich bedrohlichen Situation fehl am Platz. Hatte man Glück und erwischte den Anführer einer Gruppe schnell und hart genug, brauchte man sich mit den anderen vielleicht gar nicht mehr auseinanderzusetzen.
Er seufzte wieder. Wenn ihn sein kurzer Eindruck, den er von den Männern gewonnen hatte nicht täuschte, brauchte er hier allerdings nicht darauf hoffen. Er hörte, daß die drei nun fast bei ihm waren, drehte sich um und lächelte sie freundlich und unbefangen an. Sie lächelten nicht zurück.

“Hey, mein Freund, hast Du mal Feuer?”

Klassisch. Genau die Art und Weise einen Fremden mit “mein Freund” anzusprechen, in der alles lag, aber sicherlich keine freundschaftliche Haltung. Ebenso klassisch war, daß der Fragesteller, offensichtlich der Anführer der Gruppe, der nun vor ihm stehen geblieben war, sich nicht einmal die Mühe gemacht hatte eine Zigarette in der Hand zu halten, für die er um Feuer hätte bitten können. Mal ganz abgesehen davon, daß sein Begleiter, der rechts von ihm stand, bereits rauchte. Was für eine Farce.
Der dritte Mann war, betont desinteressiert, an ihm vorbei geschlendert und, wie er an dem Verklingen der Schritte hörte, hinter ihm stehen geblieben. Dummerweise konnte er die Entfernung nicht einschätzen, da er sich nicht nach ihm umdrehte, um den unvorbereiteten Eindruck, den er zu machen bemüht war, nicht zu stören. Nun gut, man konnte eben in einer solchen Situation nicht auf den Idealfall hoffen. Er musste sich jetzt auf das Wichtigste konzentrieren. In Sicherheit wiegen. Den Gegner ablenken. Überraschend und so hart wie möglich zuschlagen.
Er passte seinen Stand der endgültigen Position an, die sie nun eingenommen hatten, in dem er den linken Fuß leicht vorstellte. 

“Aber sicher, einen Moment.”

Er klopfte mit der linken Hand suchend seine Taschen ab, während er die rechte mit dem Blumenstrauß an der Seite nach unten hängen ließ. Er konnte sehen, wie der Fragesteller und sein Nebenmann einen schnellen aber bedeutungsvollen Blick wechselten.

“Ich muss es hier irgendwo haben, einen Moment. Würden Sie mal kurz meine Blumen halten?”
Mit diesen Worten hob er die rechte Hand und hielt dem Mann die Blumen vors Gesicht.

In dem Moment, als sein Gegenüber, überrumpelt von seiner Bitte, ganz automatisch nach den Rosen griff, ließ er sie los und schlug ihm aus der Deckung des Blumenstraußes heraus eine blitzschnelle Linksrechts-Kombination gegen Brust und Gesicht. Ohne die Bewegung zu unterbrechen machte er einen Ausfallschritt nach links und schlug dem zweiten Mann mit einer schnellen Geraden seitlich auf die Nase. Sofort darauf packte er das Ohr des ersten, der nach der schnellen und unerwarteten Schlagkombination noch desorientiert war, riss ihn zu sich heran und schwang seinen rechten Ellenbogen mit aller Kraft gegen dessen linke Gesichtshälfte.

Der Ellenbogen war neben dem Schienbein der härteste Knochen im menschlichen Körper. Mit genügend Kraft und dem richtigen Trefferpunkt konnte man mit ihm nahezu jeden anderen Knochen des Körpers brechen. Das Geräusch, das erklang, erinnerte an eine große Wassermelone, die man aus geringer Höhe auf einen Fliesenboden fallen ließ.

Sein Gegner wäre nach diesem Treffer wahrscheinlich sofort zu Boden gegangen, hätte er ihn losgelassen. Stattdessen packte er dessen Ohr noch fester, griff mit der Rechten in seinen Nacken, zog ihn nach unten und riss gleichzeitig sein Knie nach oben. Das Knacken, das er hörte, und sogar im Knie spürte, zeugte davon, daß er ihm den Kiefer entweder gebrochen hatte oder dieser zumindest durch den Treffer aus den Gelenken gesprungen war. Er ließ den Mann los, worauf dieser sofort in sich zusammen sackte.

Natürlich war ihm das Phänomen der verlangsamten Zeitwahrnehmung in Gefahrensituationen theoretisch bekannt. Trotzdem war es erstaunlich, es jetzt praktisch zu erleben. Die ganze Aktion hatte weniger als fünf Sekunden gedauert, trotzdem hatte er genug Zeit gehabt, jedes Detail wahrzunehmen und den Ablauf seiner Attacke genau durchzuführen.
Der erste Mann lag ausgeschaltet am Boden, der zweite hatte noch nicht mal die Zeit gehabt, sich von der schnellen Geraden zu erholen, die er ihm auf die Nase geschlagen hatte, um Zeit zu gewinnen. Ein direkter Treffer auf die Nase eignete sich dafür hervorragend, denn er trieb jedem die Tränen in die Augen und machte ihn kurzzeitig fast blind.

Leider musste er feststellen, daß er es hier nicht mit ein paar jugendlichen Schlägern oder pöbelnden Betrunkenen zu tun hatte. Sein Eindruck, es hier mit Männern zu tun zu haben, denen derartige Konfliktsituationen nicht fremd waren und bei denen der Vorteil des Überraschungsmoments wesentlich geringer ausfiel, wurde in dem Moment bestätigt, als der dritte Mann ihn plötzlich von hinten umklammerte und ihm so beide Arme fest an den Körper drückte.

Der zweite Angreifer hatte sich auch bereits von dem Schlag auf die Nase erholt und stürmte auf ihn los. Er konnte ihn gerade noch rechtzeitig stoppen, in dem er das rechte Bein hochriss und ihm in den Magen trat.
Dann zog er beide Beine an den Körper, so daß der Mann, der ihn von hinten festhielt, unter seinem Körpergewicht nach vorn stolperte, und stieß dann die Beine wieder kraftvoll nach unten, wodurch er hoch schnellte. Dabei stieß er mit dem Kopf nach hinten. Ein Knirschen und plötzlicher Schmerz am Hinterkopf bestätigten ihm, daß er sein Ziel getroffen hatte. Augenblicklich löste sich die Umklammerung des Mannes. Er setzte nach, in dem er noch einmal mit dem frei gewordenen Ellenbogen nach hinten in Richtung Brustbein des Gegners stieß. Dann war er den Mann endgültig los.

Bis zu diesem Punkt war alles gut gelaufen. Doch jetzt, nach seinem Befreiungsschlag aus der Umklammerung, traf der zweite Angreifer, den der Tritt zum Magen wieder nur kurzzeitig gestoppt hatte, ihn mit einem Stoß vor die Brust, so wuchtig, daß es ihm sofort den Atem nahm und ihn nach hinten stolpern ließ.
Dieser Treffer hätte alles entscheiden können. Doch statt sofort nachzusetzen, machte der Mann den Fehler, stehen zu bleiben und ihn anzustarren. Diese wenigen Sekunden reichten ihm aus, wieder atmen zu können, seinen Stand zu sichern und den Angriff zu erwarten.
Sein Gegenüber machte drei schnelle Schritte auf ihn zu und versuchte ihn mit der rechten Hand am Revers seines Jacketts zu packen. Ein weiterer Fehler, den er bereuen sollte. Sofort packte er das Handgelenk des Angreifers, drehte dessen Arm etwas nach innen ein und zog ihn, den Schwung des Heranstürmens ausnutzend, an sich vorbei. Als er halb an ihm vorbei war, schlug er mit der linken offenen Hand mit aller Kraft gegen den Ellenbogen des durchgesteckten Armes.

Es war erstaunlich, wie leicht Gelenke brachen, bewegte man sie nur mit ausreichend Kraft entgegen der Richtung, für die sie konzipiert waren. Das Krachen des Ellenbogengelenks war unnatürlich laut.

Er zog den Mann an seinem Arm, der nun in einem schauderhaft falschen Winkel abstand, nach unten. Der ging die Bewegung laut schreiend mit. Dann griff er mit der linken Hand über dessen Schulter, packte ihn direkt unter dem Kinn am Hals und riss ihn nach hinten. Gleichzeitig ließ er den lädierten Arm los, holte mit der rechten Hand weit aus, und schlug seine Handkante hart auf den Kehlkopf des Mannes.
Er spürte, wie der Kehlkopf unter der Wucht des Schlages nachgab.

Der Kehlkopf gehörte zu den 68 sogenannten kritischen Atemi-Punkten, Stellen des menschlichen Körpers, die bei einem entsprechenden Treffer den sofortigen oder baldigen Tod zur Folge haben konnten. Wurde der Kehlkopf eingedrückt, bewirkte der Knorpel, ähnlich wie ein Rückschlagventil, daß das Einatmen erschwert oder sogar unmöglich wurde. Mit dem Wissen, den Mann ausgeschalten zu haben, ließ er ihn los. Dann wandte er sich, gerade noch rechtzeitig, dem dritten Mann zu.

Dieser hatte sich nach dem harten Kopfstoß wieder aufgerappelt und stand ihm nun mit blutüberströmten Gesicht gegenüber. Die Nase des Mannes war ganz offensichtlich gebrochen. Mit der linken Hand hatte er einen Schlagring heraus geholt, und war gerade dabei, diesen über die rechte zu streifen.

Schlagringe gehörten nicht umsonst zu den verbotenen Gegenständen. Drohte auch bei falscher Handhabung die Gefahr, sich die Finger zu brechen, war es trotzdem so, daß ein erfahrener Kämpfer damit großen Schaden anrichten konnte. Wo eine gut platzierte Faust mit einem Schlagring traf, brachen Knochen. Ganz gleich, ob nun Rippen oder Gesichtsknochen. In den richtigen Händen eine überaus gefährliche Waffe.

Er griff nach dem Schlüsselbund, das immer noch aus seiner Hosentasche hing. Er brachte den Autoschlüssel, einer der alten Art, nicht die modernen mit Funkfernbedienung und ausklappbarem Bart, so in der Hand zum Liegen, daß er seine Faust fest darum schließen konnte und der metallene Bart des Schlüssels wie ein Dorn unten aus seiner Faust ragte.
So erwartete er den anderen.

Sein Gegner, angetrieben von Schmerz und Wut über die gebrochene Nase, machte zwei Schritte auf ihn zu und attackierte ihn mit einem wilden Schwinger. Ein Schlagring eignete sich dafür nur bedingt, zu groß war die Gefahr, daß er schief auftraf und dem Schlagenden die Finger brach, doch das schien dem Mann in diesem Moment nicht in den Sinn zu kommen.
Statt dem Schwinger auszuweichen, machte er mit links einen halben Schritt auf den Mann zu und verkürzte so dessen angestrebte Schlagdistanz.
Gleichzeitig riss er seinen angewinkelten linken Arm hoch, um seinen Kopf zu schützen. Der Schwinger traf ihn mit voller Wucht, da er aber die Distanz verkürzt hatte, mehr mit dem Unterarm als mit der beringten Faust.
Er schlug seinen linken Arm auf die Schlaghand des Mannes, griff den Ärmel seiner Jacke und drückte sie nach unten. Als nächstes drehte er seine rechte Schulter nach vorn und ging so in die Nahdistanz.
Mit dem rechten Arm drückte er den linken des anderen zur Seite und brachte seinen Arm darüber. Dann ließ er drei schnelle, aber kraftvolle sogenannte Hammerschläge mit der bedornten Unterseite seiner Faust auf die linke Schläfe des Mannes folgen. 

Ein harter Schlag auf die Schläfe konnte bereits mit der bloßen Faust zu sofortiger Ohnmacht oder, in ungünstigen Fällen, auch zum Tod führen. Maximierte man allerdings die Auftrefferkraft dadurch, daß man sie auf einen kleinen Punkt konzentrierte, wie zum Beispiel durch einen Kugelschreiber, oder eine Schlüsselspitze, war die Wirkung verheerend.

Er spürte, wie die Spitze des Autoschlüssels bei jedem Schlag eindrang.

Der Mann ging augenblicklich zu Boden.

Die gesamte Aktion hatte kaum mehr als eine Minute gedauert. Trotzdem musste er zu Atem kommen, als hätte er einen Dauerlauf hinter sich. Aufgepeitscht vom eigenen Adrenalin stand er da und betrachtete das Resultat der Auseinandersetzung.

Der Mann, der ihn angesprochen hatte, lag regungslos auf dem Rücken. Sein Unterkiefer war stark deformiert, außerdem lief ihm Blut in feinen Rinnsalen aus beiden Ohren. Vermutlich hatte der Ellenbogentreffer zu einem Schädelbasisbruch geführt.
Der zweite Angreifer lag mit unnatürlich nach hinten gerichteten Arm halb auf der Seite. Es war nicht zu erkennen, ob durch den eingedrückten Kehlkopf seine Atmung bereits zum Stillstand gekommen oder nur sehr flach war.
Am deutlichsten hatte es den dritten Mann erwischt. Er lag lang ausgestreckt auf dem Rücken, die Augen aufgerissen und so weit nach oben verdreht, daß nur noch das Weiß der Augäpfel zu sehen war. Seine Arme und Beine zuckten unkontrolliert. Hier war lag definitiv eine schwere Hirnverletzung vor.

Und er selbst? Abgesehen vom anschwellenden Knie, einem pochenden Schmerz im Hinterkopf und dumpfen Schmerzen am Brustbein, schien alles so weit in Ordnung zu sein. Er schaute an sich herunter, um den Zustand seines Anzuges zu überprüfen.
Na großartig, dachte er, das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Dort, wo ihn der wuchtige Stoß des zweiten Angeifers getroffen hatte, ragte ein Messergriff aus seiner Brust. Da er nicht davon ausgehen konnte, daß es sich dabei nur um den Griff eines Messers handelte, der auf wundersame Weise an seinem Hemd hängen geblieben war, bedeutete das wohl, daß der Rest des Messers in seinem Brustkorb stecken musste.
Er zog probeweise an dem Griff. Das Messer steckte offenbar sehr fest.
Das kam jetzt wirklich sehr ungelegen.
Er schaute zur Uhr. In wenigen Minuten würde ihr Zug ankommen. So konnte er unmöglich bleiben. Wie sollte er sie denn in seine Arme schließen können, mit diesem Ding zwischen ihnen?
Das Messer erklärte natürlich auch das Zögern des Mannes, nachdem er ihm den vermeintlichen Stoß verpasst hatte. Er hatte eine Reaktion erwartet, die ausgeblieben war. Außerdem hatte er auch nicht versucht, ihn am Revers zu fassen, sondern er hatte sein Messer wiederhaben wollen. Nun, den Wunsch konnte man ihm erfüllen. Er umfasste fest den Griff des Messers und zog. Er spürte, wie die Klinge beim Herausziehen an seinen Rippen entlang kratzte. Dann hatte er es heraus gezogen.
Traurig betrachtete er den Schlitz, den das Messer an der Eintrittsstelle in seinem Hemd hinterlassen hatte. Dort breitete sich nun schnell ein großer roter Fleck aus. Tiefrot. Fast Rosenrot. Die Farbe des Lebens. Und der Liebe.
Es war ihr Lieblingshemd. Etwas verärgert warf er das Messer in Richtung des Mannes, dem es gehörte. Vielleicht fand der ja später eine andere Verwendung dafür.
Dann sah er sich nach ihrem Blumenstrauß um.
Offensichtlich waren er und seine neuen Freunde bei ihrer kleinen Rangelei darauf herum getreten. Er hob eine einzelne Rose auf, die unversehrt war. Sie war wunderschön. Genauso wie die Frau, für die sie bestimmt war. Außerdem passte sie farblich perfekt zu dem großen roten Blutfleck, der inzwischen fast die gesamte Vorderseite seines Hemdes einnahm.
Er hörte, wie der einfahrende Zug sich näherte. Gleich würde er sie endlich wieder in seine Arme schließen können.
Nur gut, dachte er, daß er ihr schon vor so langer Zeit sein Herz geschenkt hatte. Hätte er es heute bei sich gehabt, hätte ihn dieses Messer in ernste Schwierigkeiten bringen können.
Der Zug war inzwischen zum Stillstand gekommen. Eine der Türen öffnete sich, und sie stieg aus. Endlich.
Die Welt um ihn herum wurde weich.

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(April 2014)

Erwartungshaltung

Er blickte von seinem Manuskript auf. Gott, wie sehr er das Schreiben liebte. Nichts machte ihm so viel Freude, wie das hier. So viele Möglichkeiten. Einerseits, fühlte man sich dabei wie ein guter Handwerker, der genau wusste, was er tat, und seine Arbeit systematisch und gleichzeitig intuitiv bis zu ihrer Fertigstellung vorantrieb.
Andererseits, auch wenn er sich abgewöhnt hatte das zu äußern, fühlte man sich wie Gott. Diese Allmacht, die er spürte, wenn ihm klar wurde, daß er alles tun konnte. Er konnte ungestraft morden, Männer in die Hölle schicken, Liebende vereinen, ja, sogar den Teufel betrügen. Nichts stand ihm dabei im Weg.
Er griff sich aus der Stiftschale auf seinem Schreibtisch einen nagelneuen Bleistift und ein altes Rasiermesser mit Perlmutteinlagen im Griff. Er klappte das Rasiermesser auf und hielt es so, daß die Klinge das Licht seiner Schreibtischlampe reflektierte. Klingen übten von jeher eine große Faszination auf ihn aus. Mit ihnen konnte man Dinge verändern. Ihnen andere Formen geben. Dieses Rasiermesser hatte er auf einem Flohmarkt gekauft. Seither benutzte er es zum Anspitzen seiner Bleistifte. Oder er betrachtete es einfach nur und ließ seinen Gedanken freien Lauf, so wie jetzt.Was er besonders gerne tat, war Geschichten unerwartete Wendungen zu geben. Beim Leser über den Spannungsbogen eine gewisse Erwartungshaltung aufzubauen, um diese dann am Ende zu brechen. Es war inzwischen schon eine Art Markenzeichen von ihm geworden. Nun gut, dieses “Erwarten Sie das Unerwartete!”, das sein Verlag für die Promo-Tour seines dritten Bandes mit Kurzgeschichten verwendet hatte, war alles andere als subtil und auch nicht sehr originell. Aber es stimmte. Darin war er gut. Und er liebte es. Und, viel wichtiger, seine Leser mochten es auch. Das bestätigten sie ihm immer wieder.
Auch heute bei der Signierstunde, die er in einer kleinen Buchhandlung gegeben hatte, nachdem er einige seiner neusten Kurzgeschichten vorgelesen hatte. Er mochte den Kontakt zum Leser. Er mochte die Reaktionen und Rückmeldungen, die er auf seine Arbeit erhielt. Er mochte es auch, wenn Leute echtes Interesse an dem zeigten, was er tat und wie er es tat. Was er sich dabei dachte. Diejenigen Leser, die bei solchen Gelegenheiten mehr als ein signiertes Exemplar seiner Bücher wollten und mehr als nur ihre Begeisterung zum Ausdruck bringen, erkannte er inzwischen sofort.
So auch heute. Das junge Ding in der ersten Reihe, das während der ganzen Lesung mit weit aufgerissenen Augen an seinen Lippen hing, um auch keines seiner Worte zu verpassen, war ihm sofort aufgefallen. Und tatsächlich, als die Signierstunde begann, hatte sie sich in der Nähe seines Tisches aufgehalten, nah genug, um seine kurzen Unterhaltungen mit seinen Lesern mitzuhören. Aber sie hatte geduldig 90 Minuten gewartet, bis alle anderen gegangen waren und war erst dann, als sie sicher war, die letzte zu sein, mit leuchtenden Augen an seinen Tisch getreten. So war es immer, bei dieser speziellen Art von Leserinnen.
Was dann folgte waren erst schüchterne Komplimente, die schließlich in atemlose Lobeshymnen seiner Arbeit übergingen.
Während die junge Frau sprach, hörte er zwar zu, war aber nur halb bei der Sache. Was dieser Typ Leserin zu erzählen hatte, hatte er schon in tausenden Varianten gehört. Natürlich hatte sie alles von ihm gelesen. Natürlich fand sie alles großartig. Und natürlich schrieb sie selbst auch. Niemals so großartig wie er, das betonten sie alle, nur Gedichte und einige Kurzgeschichten bisher. Meistens ging es dabei um unerfüllte heimliche Liebe zu einem Idol, das aber selbstverständlich nichts von der Existenz der Protagonistin wusste.
Während sie sprach, war seine eigentliche Aufmerksamkeit auf die drei Dinge gerichtet, die ihn bei Frauen am meisten faszinierten. Die Augen, der Mund und die Hände.
Alles konnte man wunderbar betrachten, während man vorgab, aufmerksam zuzuhören.
Ihre großen blauen Augen blickten ihn die ganze Zeit offen an, während sie sprach, es sei denn, sie sprach von sich und ihren eigenen bescheidenen Schreibversuchen. Dann blickte Sie verlegen nach unten oder zur Seite.
Sie hatte schön geformte Lippen, deren natürliche Farbe einen Einsatz von Lippenstift geradezu untersagte.
Und dann waren da ihre Hände. Schlank, mit langen, grazilen Fingern. Ihre Hände flogen die ganze Zeit emsig durch die Luft, unterstrichen mit vielen Gesten ihre Worte, um zwischendurch immer wieder zu verharren, und sich an ihre Brust zu pressen, während sie, verlegen von ihrer Aufregung und überwältigt von ihrem eigenen Mut, Luft für die nächsten Sätze holte.

Sie war genau der Typ von Leserin, die niemals auf die Idee gekommen wäre, sein Angebot abzulehnen, das er ihr, nach dem der gröbste Redeschwall durch war, in einer Atempause unterbreitete.
“Wenn Sie später nichts Besonderes vor haben, ” hatte er zu ihr gesagt “können Sie mich gerne begleiten und sehen, wie ich arbeite. Ich habe vor, heute noch eine neue Kurzgeschichte zu schreiben. Dann könnte ich Ihnen auch veranschaulichen, wie man beim Leser eine Erwartungshaltung aufbaut, nur um diese dann zu brechen.”

Sie hatte den Atem angehalten und ihn aus ihren riesigen blauen Augen angesehen. Natürlich war ihm klar, daß sie sein Angebot annehmen würde. Dieser “Unschuld-vom-Lande” Typ hätte sogar ihre Mutter auf dem Sterbebett allein gelassen für solch einen Abend. Sie sah ihn an, wie eine erzkonservative Katholikin, die gerade vom Papst persönlich gefragt worden war, ob sie sich seine private Reliquien-Sammlung anschauen wolle.

“Sehr gern.” hatte sie errötend gehaucht, die hübschen Finger beider Hände an ihre Brust gepresst.

Und so waren sie zu ihm gefahren, nachdem er in der Buchhandlung alles erledigt hatte. Sie hatte auch die gesamte Fahrt über geredet. Ihm zu, wie es ihm schien, allen Geschichten, die er jemals geschrieben hatte, erzählt, wie es ihr beim Lesen ging, und beschrieben, wie sie die Muster seiner Aufbauten des Spannungsbogens genau erkannt hatte.
Er hatte die ganze Zeit nur still gelächelt. Dieser Typ war ihm am liebsten. Bei ihr würde der Lerneffekt am größten sein, wenn er ihr aufschlüsselte, wie er wirklich dachte und arbeitete. Und dafür wäre sie sicher sehrdankbar.
Sie war erst verstummt, als sie seine Wirkungsstätte erreicht hatten.
Er hatte sich, nach dem Erfolg seiner ersten beiden Bücher, für einen Spottpreis auf einem verlassenen Industriegelände eine alte Fabrikhalle gekauft und das obere Stockwerk zu einem 300qm großen Loft umbauen lassen, wo er arbeitete und, wenn er an größeren Projekten saß, auch lebte.
Er mochte die industrielle Atmosphäre, außerdem war hier Tag und Nacht kein Mensch im Umkreis von einem Kilometer und sein Loft bot einige spektakuläre Ausblicke.
Wenn man allerdings das erste Mal spät Abends herkam, war es etwas einschüchternd.
Während sie schweigend im Fahrstuhl nach oben fuhren, konnte er im Augenwinkel sehen, wie sie ihn heimlich von der Seite betrachtete. Wahrscheinlich weil sie sich fragte, ob er vor hatte, sie in dieser Abgeschiedenheit zu foltern und abzuschlachten, um sie als Anschauungsmaterial in einer seiner nächsten Geschichten zu verwenden. Der Gedanke hatte ihn grinsen lassen.

Als sie schließlich an der Tür zu seinem Loft angekommen waren, hatte er das erste Mal wieder das Wort an sie gerichtet.
“Also, das sind die Spielregeln.” hatte er gesagt. “Wenn wir diese Tür durchschritten haben, sagen sie kein Wort mehr, bis ich sie dazu auffordere. Sie dürfen mir beim Arbeiten zusehen und danach werde ich ihnen ausführlich erklären, wie man einen Spannungsbogen aufbaut, beim Leser eine Erwartungshaltung konstruiert, diese manipuliert und sie schließlich bricht. Danach, und erst danach, werden sie Gelegenheit haben, Fragen zu stellen. Wenn Sie sich daran halten können, erleben Sie eine Nacht, die Sie ihr Lebtag nicht vergessen werden. Wenn nicht, findet dieser Abend ein sehr abruptes Ende. Haben Sie noch Fragen?”
Sie schüttelte verschüchtert den Kopf.
Ihm war bewusst, daß es eine harte Ansage war, aber, was diese besonderen Abende anging, war er rigoros. Sonst machte es beiden Seiten nicht den Spaß, den es machen konnte.
“Gut, ” sagte er und schloss die Tür auf “dann treten Sie bitte ein. Herzlich Willkommen in meinem Refugium”

Danach hatte er ihr Gelegenheit gegeben, sich im Hauptraum, seinem Arbeitszimmer, umzusehen, wortlos selbstverständlich, und sie dann zum großen Lehnstuhl dirigiert, der in der Nähe seines Schreibtisches stand und sie gebeten, sich zu setzen.

Und dort saß sie nun und hatte ihn still bei der Arbeit an seiner Geschichte beobachtete in den letzten – er riss seinen Blick von der Reflexion der Rasierklinge los, und blickte auf die Uhr – ups, zwei Stunden.
Er hatte ein bißchen ein schlechtes Gewissen, denn normalerweise ließ er seine weiblichen Fans nicht so lang auf die Erläuterung zur Erwartungshaltung warten, die nun folgen würde. Andererseits freute er sich. Wenn sie es zwei Stunden ausgehalten hatte zuzusehen, wie er wortlos in seine Geschichte vertieft war, zeugte das von besonderer Ausdauer und Leidenschaft für die Sache. Es versprach ein aufregender Abend zu werden.

Er drehte sich auf seinem Stuhl zu ihr um, Bleistift und Rasiermesser noch in der Hand. Sie saß immer noch im Lehnstuhl und sah ihn mit großen Augen an. Sie hatte nicht einmal die Hände mit den schönen grazilen Fingern von den Armlehnen genommen. Selbst der Kaffee und das Glas Wasser, die er ihr auf dem kleinen Tischchen direkt vor ihrer rechten Hand bereit gestellt hatte, waren unangetastet. Donnerwetter, dachte er, die Kleine war hart im Nehmen. So regungslos und geduldig warteten nur die Wenigsten darauf, das er seinen kleinen Vortrag begann. Hoffentlich behielt sie ihre Nehmerqualitäten den Rest der Nacht bei, dann würde es noch richtig aufregend werden.

“Entschuldigen Sie, daß ich sie so lange warten ließ. Manchmal vergesse ich alles um mich herum, wenn ich an einer guten Geschichte sitze. Wenn Sie möchten, erkläre ich Ihnen nun, wie man eine Erwartungshaltung beim Leser schürt, diese manipuliert und für ein überraschendes Finale ausnutzt.”
Sie sah in mit ihren großen blauen Augen an und nickte langsam.

“Gut. Dann fangen wir an.” Er zog sich seinen Stuhl ran und setzte sich ihr direkt gegenüber. Dieser Teil solcher Abende machte ihm immer besonders viel Spaß. Also abgesehen von den späteren Höhepunkten.

“Die Idee zu einer Geschichte ist im Grunde nicht viel anders, als dieser Bleistift.” Er hielt den Bleistift hoch und drehte ihn hin und her.
“Fabrikneu, ganz klar in seiner Bestimmung definiert, aber in seinem Rohzustand völlig unbrauchbar. Was es also braucht, ist das Werkzeug und die Fähigkeit, ihm seine endgültige Form zu geben.”
Er hob das Rasiermesser. “Genau wie ein Bleistift braucht eine Geschichte eine Spitze. Und die Aufgabe des Autors ist, sie ihr zu geben. Je präziser die Spitze ausgearbeitet ist, desto besser funktioniert die Geschichte. Deshalb ist es wichtig, genau zu wissen, was man tut.”
Er setzte die Klinge des Rasiermessers an den Bleistift und fing an, diesen langsam und sorgfältig mit äußerster Präzision anzuspitzen.
“Unser Hauptthema, das mir am meisten Spaß macht, und Sie, wie ich meinte rauszuhören, am meisten begeistert, ist das unerwartete Ende. Die gebrochene Erwartungshaltung des Lesers.” Er hielt kurz inne und betrachtete den Bleistift.
“Die einfachste Form ist der Aufbau einer unverfänglichen Situation, die dann abrupt einen völlig anderen Verlauf nimmt. Sie kennen das aus meiner Kurzgeschichte ‘Nachtisch’.
Das Ende kommt plötzlich wie eine Ohrfeige. Ohne weitere Erklärung. Ohne Fortführung. Der Leser, eben noch auf die Beschreibung einer ganz normalen Situation konzentriert, sitzt auf einmal da und weiß gar nicht, was überhaupt passiert ist.”
Er betrachtete wieder den Bleistift und fuhr dann damit fort, ihn sorgfältig anzuspitzen.
“Natürlich eignet sich so etwas am besten für sehr kurze Geschichten, besonders, wenn es so ein irreales und verstörendes Ende nimmt wie bei ‘Nachtisch’. Wenn Sie sich hingegen etwas mehr Zeit lassen wollen, müssen Sie zunächst eine Situation schaffen, in die der Leser sich hinein orientieren muß. Das kann eine ganz normale Sitation sein oder eben auch eine, die bereits von Anfang an verstörend und beklemmend ist. Wie in meiner Geschichte ‘Dachbodenfund’, in der dieser Künstler auf dem Dachboden rumschleicht, wo er etwas versteckt hält. Sie erinnern sich?”
Sie nickte langsam, ohne ihren Blick von ihm zu nehmen.
“Da habe ich eine beklemmende Situation geschaffen, die sich dann als etwas recht normales entpuppt, aber trotzdem, mit den letzten Sätzen, beim Leser ein beklemmendes Gefühl hinterlässt. Das ist dann schon eine Stufe weiter. Und wenn Sie das ein paar mal hinbekommen haben, wird es erst richtig interessant. Haben Sie erstmal den Ruf weg, stets für ein unerwartetes Ende zu sorgen, glaubt der Leser, zu wissen, was auf ihn zu kommt. Und dann können Sie ihn nach Herzenslust manipulieren. Dann haben Sie nicht eine spezielle, sondern eine allgemeine Erwartungshaltung geschürt.”
Er betrachtete wieder seinen Bleistift. Er war inzwischen viel spitzer, als es überhaupt sinnvoll war, wenn man damit schreiben wollte.
“Sie können dann die vorhandene Erwartungshaltung schüren oder ablenken. Sie können ihr eine Richtung geben. Zum Beispiel in meiner Geschichte ‘Spielplatz’. Ich habe sehr oft gehört, daß die Leser schon sehr früh, mit einem solchen Ende gerechnet haben. Aber eben nicht mit diesem Ende.”
Er lachte. “Natürlich haben sie das. Weil ich es so wollte. Der Ort des Geschehens legte ein solches Ende nahe, aber ich habe die Aufmerksamkeit des Leser umgelenkt. Und wodurch? Durch die Beschreibung des fremden Jungen, ganz zu Beginn. Geschildert aus Sicht des anderen Jungen. Natürlich völlig subjektiv. Der Leser glaubt, eigene Eindrücke zu sammeln, eigene Gedanken zu haben, aber er bekommt nur genau das, was ich will, das er bekommt. Jeder, der die Geschichte liest, ist sehr früh ganz sicher, wie sie endet. Und am Ende haben doch alle Gänsehaut.”
Er betrachtete wieder seinen Bleistift. Das obere Drittel war eigentlich nur noch Spitze. Die vorderen Zentimeter bestanden nur noch aus der Graphitmine, die so spitz war, das sie an eine Nadel erinnerte.
“Wichtig ist, worauf man die Aufmerksamkeit des Lesers lenkt. Und ob man sie darauf lenkt, um abzulenken, oder um ihn in Sicherheit zu wiegen. Das können Beschreibungen an Personen sein, Details, die oft erwähnt werden. Oder ganz alltägliche Dinge, die aber fremd erscheinen. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Bleistift.”
Er hielt ihn hoch. “Ein ganz alltägliches und harmloses Objekt. Aber kombinieren Sie ihn mit einem weniger alltäglichen Objekt, das sogar etwas Bedrohliches ausstrahlt, wie zum Beispiel einem alten Rasiermesser, ” er hielt es hoch “und einer ungewöhnlichen Tätigkeit, wie dem übereifrigen Anspitzen durch einen schwadronierenden Autor, ” er lachte, dann verfinsterte sich seine Miene plötzlich “bekommt dieser Bleistift etwas beklemmendes. Er wird zu einer unterschwelligen Bedrohung. Und der Leser, egal wie sehr er glaubt den Stil ihrer Geschichten zu kennen, weiß nicht einmal, für wen. Vielleicht ja sogar für den Autor selbst?”
Er lachte wieder auf.
“Oder der Bleistift spielt später überhaupt keine Rolle mehr, sondern diente nur dazu, die Aufmerksamkeit des Lesers zu wecken und seine Erwartungshaltung zu kanalisieren, und verschwindet danach auf Nimmerwiedersehen. Gerade wenn der Leser glaubt, zu wissen, was er von ihnen zu erwarten hat, ist es am einfachsten.” Er fuhr damit fort, den Bleistift zu bearbeiten.

“Aber, kehren wir zurück zum allgemeinen Aufbau der Erwartungshaltung. Zum nächsten Schema. Sie können natürlich, statt dem ganzen eine Wendung zu geben, eine Situation auch immer weiter steigern. Nehmen wir meine Geschichte ‘Pathologische Liebschaften’. Sie beginnt bereits etwas beklemmend. Alltäglich zwar, aber durch Ort und Situation durchaus beklemmend. Wenn sie dann im Mittelteil zur Nekrophilie übergeht, denkt der Leser, dies sei bereits das eigentliche Thema. Und warum? Weil die Beschreibung, Leiche hin oder her, für viele Leser sehr erregend war. Das Denken tritt in den Hintergrund. Und, wie ich Ihnen versichern kann, nicht nur bei den Männern.” Er zwinkerte.
Für einen Augenblick war nur das Schaben der Rasierklinge am Bleistift zu hören. Er sah, wie sich auf ihren Unterarmen Gänsehaut bildete. Aha, dachte er, hab ich Dich.
Sie war, wie so viele, eine von den Leserinnen, die bei der Beschreibung im Mittelteil von ‘Pathologische Liebschaften’ Bilder davon im Kopf hatten, wie sie diese Situation selbst erlebten. Natürlich, mit einem lebenden Menschen. Am besten, mit dem Autor dieser Worte. Er musste grinsen.

“Wissen Sie, der menschliche Körper und Geist sind etwas faszinierendes. Viele Gefühle, auch wenn sie eigentlich völlig gegensätzlich sind, haben eine gemeinsame Basis. So ist eine Frau, die vorher intensiv Angst verspürt hat, zum Beispiel sexuell sehr viel erregbarer als ohne diese Angst. Weil viele Prozesse im Köper sich bei beiden Gefühlen sehr ähneln. Die Angst lässt gewissermaßen schon mal den Motor warm laufen für die folgende sexuelle Erregung.”
Einen Augenblick lang sah er in ihren großen blauen Augen eine intensive Hoffnung aufkeimen, den späteren Verlauf des Abends betreffend. Er lächelte.
“Natürlich funktioniert das auch in die entgegengesetzte Richtung. Wie bei ‘Pathologische Liebschaften’.Der Schock über das Ende hätte beim Leser nicht halb so tief gesessen, wäre vorher nicht die unterschwellige sexuelle Erregung da gewesen und der anschließend folgende, fast zärtliche Tonfall, den die Gedanken der Protagonistin angenommen haben.”
Einen Moment lang herrschte wieder Schweigen. Die Spannung, die zwischen den beiden herrschte, lag so deutlich in der Luft, daß sie bereits körperlich spürbar war. Er durchbrach sie, in dem er fortfuhr.

“Ich persönlich finde allerdings die plötzliche Wendung der Ereignisse am spannendsten. Eine Wendung, die zwar unerwartet kommt, aber bei der dem Leser im Nachhinein klar wird, daß es bereits im Vorfeld deutliche Anzeichen dafür gab. Aber diese Anzeichen, machen es gerade so spannend. Der Leser weiß nie, auf welches Detail er sich konzentrieren muss, wenn er auf das Ende vorbereitet sein will. Das können Dinge sein, die beiläufig erwähnt werden, die sich oft wiederholen, aber auch Dinge, die er partout nicht zu sehen bekommt, nur damit sie dann plötzlich gezeigt werden. Und selbst wenn er sicher ist, worauf er seine Aufmerksamkeit richten muss, weiß er nie, ob diese Details nur dazu dienen, ihn abzulenken.”

Er betrachtete wieder ihre Finger. Sie waren wirklich außergewöhnlich schön. Wie würde es wohl sein, sie zu berühren? Sie überall auf seinem Körper zu spüren? Nun, wenn der Abend seinen üblichen Verlauf nahm, würde er es bald wissen. Er beschloss, das Ganze etwas zu verkürzen. Sie hatten beide schon lange genug gewartet.

“Das Schöne ist, sie können all das beliebig kombinieren. Je mehr der Leser glaubt zu wissen, was er von Ihnen zu erwarten hat, desto einfacher ist es, ihn zu manipulieren. Sie können eine harmlose Situation bedrohlich umschlagen lassen. Sie können eine bedrohliche Situation als harmlos auflösen. Sie können eine harmlose Situation bedrohlich wirken lassen, sie dann entspannen, um sie plötzlich fürchterlich enden zu lassen. Wenn Sie die Erwartungshaltung des Leser kennen, weil Sie ja diejenige sind, die sie geschürt haben, können Sie sie auch brechen, so einfach wie das Genick eines jungen Hundes.”
Sie sah ihn erschrocken an.

Er lachte verlegen. “Entschuldigen Sie, ich fürchte, meine Bildsprache ist durch meine manchmal etwas perfiden Geschichten etwas in Mitleidenschaft gezogen worden. Also, fahren wir fort. Sie können auch ganz grausam sein und eine harmlose Situation mit einigen Andeutungen und Unklarheiten anspannen und dann überhaupt nichts passieren lassen. Und das Beste ist, der Leser hat keine Chance sich dagegen zu wehren. Im Gegenteil. Sie können ihm sogar direkt vor Augen führen, was sie tun und wie, trotzdem kann er unmöglich voraussehen, was ihn erwartet. Sie könnten ” er hob das Rasiermesser wie einen mahnenden Zeigefinger und zwinkerte “sogar so weit gehen, eine Geschichte über einen Autor zu schreiben, der einer Leserin einen Vortrag über seine schriftstellerischen Techniken zu Spannungsbogen und Erwartungshaltung hält, ohne daß der Leser, obwohl ihm alles vor die Nase gehalten wird, die Anzeichen erkennen würde, um zu wissen, was ihn erwartet. Ohne zu wissen, ob der Zuhörerin ein grausames Ende droht, oder dem Autor. Oder beiden. Oder es sich alles als spannungsgeladene aber harmlose Situation auflöst. Oder vielleicht sogar als Traum. Natürlich ” er senkte das Rasiermesser wieder “erfordert das Mut, eine gewisse Dreistigkeit und entsprechendes Können. Denn bei längeren Geschichten müssen Sie ja eine schlüssige Gesamtsituation konstruieren, die die entsprechende Auflösung überhaupt zu lässt. Und” diesmal hob er den bis zum Äußersten angespitzten Bleistift “sie müssen natürlich in der Lage sein, die Situation mit nur wenigen Sätzen umschlagen zu lassen. Der Leser darf keine Zeit haben, sie in sich arbeiten zu lassen. Sie müssen die Ereignisse auf dem Papier genau so schnell passieren lassen, wie in der Realität. Und das können nicht viele. Besonders, wenn sie einen mehrfachen Wechsel vollziehen. Außerdem ” er seufzte “brauchen sie dafür natürlich auch gute Leser. Erst im Kopf des Lesers reift eine Geschichte zu der ihr innewohnenden Perfektion heran. Oder gärt, im Falle mancher meiner Geschichten.” Er lachte kurz auf.
“Nur im Kopf des Lesers, werden Bilder gezeigt, die sie nie beschreiben könnten. Nur er denkt unausgesprochene Gedanken zu Ende. Und nur er denkt die Geschichte weiter, wenn sie ihn mit einem überraschenden, aber halb offenen Ende stehen lassen. Ohne gute Leser nützen ihnen alle Bemühungen nichts.”

Er rieb sich mit dem Handrücken über die Stirn. “Ich hoffe, Sie konnten meinen Ausführungen folgen.”
Stummes Nicken ihrerseits. Während des ganzen Vortrags hatte sie ihren Blick nicht von ihm genommen, sich nicht gerührt. Sehr ausdauernd, dachte er und grinste innerlich.

“Sehr gut, denn ein Verständnis ist wichtig, da wir uns nun dem vorläufigen Höhepunkt nähern. Dem Durchbrechen der Erwartungshaltung. Da fällt mir ein, ” er nickte in Richtung ihrer Tasse ” möchten Sie vorher vielleicht einen frischen Kaffee?”
Langsames Kopfschütteln. Nun, die Spielregeln waren zwar strikt, doch auf diese Frage hätte sie ruhig antworten können. Aber das Stück Tuch, das er ihr als Knebel in den Mund gestopft hatte, machte das natürlich unmöglich. Und herausziehen konnte sie es nicht, schließlich waren ihre Hände mit breiten Lederriemen an die hölzernen Armlehnen des Stuhls gefesselt.
“Ganz wie sie möchten. Also, da sie mein Gast sind und so ein geduldiger dazu, dürfen sie entscheiden, wie wir fortfahren. Mit den Augen” er hielt die Bleistiftnadel hoch “oder” er hob das Rasiermesser “mit ihren wunderschönen Lippen?”

Sie riss erschrocken die Augen auf, realisierte dann wahrscheinlich den Bleistift und kniff sie fest zu, sichtlich bemüht, vor lauter Angst nicht hinter ihrem Knebel zu schreien. Er grinste. Als ob ihr das etwas genützt hätte. Er fing an zu lachen.
Sein Lachen war so herzlich und laut, so ohne jede Bosheit, daß sie die Augen öffnete und ihn erstaunt ansah.

“Sie haben es geglaubt, nicht wahr? Drei Stunden auf diesen Stuhl gefesselt und mein fast manischer Vortrag haben gereicht, Sie glauben zu lassen, ich würde Ihnen die Augen ausstechen oder die Lippen mit einem Rasiermesser abschneiden. Nein, meine Liebe, nichts von beidem. Sie haben eben eine höchst exklusive praktische Vorführung dessen bekommen, worüber ich die ganze Zeit sprach.”
Er schüttelte belustigt den Kopf, während sie ihn aus aufgerissenen Augen ungläubig ansah.
“Überlegen Sie, wie oft wurde heute Ihre Erwartungshaltung aufgebaut, manipuliert und schließlich gebrochen? Von einer Lesung Ihres Idols mit Aussicht auf ein Autogramm, über den verheißungsvollen Einblick in seine Arbeit und der unausgesprochenen Möglichkeit einer Nacht voller knisternder Erotik, ” er legte Bleistift und Rasiermesser auf dem Beistelltischchen vor ihr ab, und zählte mit den Fingern mit “dann finden Sie sich auf einem beängstigenden Fabrikgelände wieder, mitten in der Nacht, mit einem Ihnen eigentlich fremden Mann, betreten plötzlich die beruhigende Atmosphäre eines luxuriösen Lofts, nur um dann gefesselt zwei Stunden einem Mann zuzusehen, wie er wortlos über seinem Manuskript brütet.”
Er schüttelte den Kopf und lachte wieder.
“Und dann hält Ihnen dieser Mann einen Vortrag über literarische Techniken, als säßen Sie in einem Kurs für kreatives Schreiben und nicht gefesselt auf einem Stuhl. Während dessen fuchtelt er Ihnen mit bedrohlichen Gegenständen vor dem Gesicht herum, nur um Sie abschließend mit Folter und Tod zu bedrohen. Und jetzt? Jetzt müssen Sie begreifen, daß Sie gerade nur auf höchst anschauliche Weise etwas über Spannungsbögen und gebrochene Erwartungshaltungen gelernt haben. Herzchen, ” sagte er und schüttelte wieder den Kopf “wenn Sie den Aufbau meiner Geschichten nur halb so gut begriffen und verinnerlicht hätten, wie Sie dachten, dann wären die letzten Stunden zwar unbequem, aber eher aufregend als beängstigend gewesen. Haben Sie denn den Promo-Slogan meines Verlags nicht gesehen? ‘Erwarten Sie das Unerwartete!’”
Er zog ihr den Knebel aus dem Mund.
“Jetzt dürfen Sie Fragen stellen, wenn Sie möchten.”

Während sie noch verzweifelt nach Atem rang, stellte er das Tablett mit dem Wasser und dem inzwischen kalten Kaffee bei Seite.
“Selbstverständlich, ” sagte er und grinste wieder “dürfen Sie natürlich auch einfach laut schreien, während ich mich Ihren wunderschönen Fingern widme.”
Mit diesen Worten ging er zum Regal und holte die große Papierschneidemaschine, die dort bereit stand.
(April 2014)

In alter Tradition

Als Kind
fragte ich
meinen Großvater:

“Warum
habt Ihr nichts
dagegen getan?”

und er
lächelte nur traurig
und schüttelte den Kopf
und antwortete nicht.

Heute schaue ich mich um
und fürchte
unsere Enkel werden fragen:

“Warum
habt Ihr nichts
dagegen getan?”

und wir
werden lächeln
und kopfschütteln
und stumm bleiben

und sie
werden lächeln
und kopfschütteln
und stumm bleiben
üben

und die Fragen
und die Untätigkeit
ihrer Enkel erwarten.

Fehldiagnose

Ich war immer der Meinung,
ich wäre von Idioten umgeben,

bis ich eines Tages ein
medizinisches Wörterbuch
in die Hände bekam

und dort nachlesen konnte, daß
Idiotie
angeborener Schwachsinn ist.

Seitdem habe ich
meine Meinung geändert,
denn die am häufigsten auftretende
Form von Schwachsinn

wird keineswegs angeboren,
sondern die muss man sich
hart erarbeiten.

Versuch einer konstruktiven Kritik am Medium Fernsehen

(Sehr frei nach Ernst Jandl)

Ottos Mops glotzt:

Kokainkonsumierende Topmodels
Schwadronierende Popproleten
Sorglose Sozialschmarotzer
Diktatorische Demokraten
Sogenannte Oppositionen
Monotone Angebotsspots
Morallose Organisationen
Sonderbare Soap Operas
Protzige Modemonopole
Sodomierende Dominas
Marode Monarchen
Folternde Soldaten
Kosmische Sonden
Sado Maso Pornos
Doofe Motorshows
Horrortornados

Ottos Mops kotzt.

Keine Zeit mich zu beklagen

Mir bleibt
keine Zeit
mich zu beklagen,

ich beklage schon
Euch und Eure Toten,
die vergangenen
wie die zukünftigen

und Euer
unverständliches Verständnis
von

Gut und Böse,
Recht und Unrecht,
Befreiung und Freiheit,
Leben und Tod.

Ich beklage

Eure Gier,
Eure Panik,
Eure Wut,
Eure Gewalt.

Eure Mechaniken der Macht,
Euer Klima inszenierter Angst,
Euer Problem hinter der Lösung,
Eure Freude am foltern und töten.

Ich beklage
Euren grenzenlosen Stumpfsinn,
Euren allgegenwärtigen Irrsinn,
Euren wachsenden Wahnsinn.

Vielleicht
wäre es besser
Mich
zu beklagen,

zum Beispiel

mein Unvermögen,
meinen Blick von Euch
und Euren Methoden
abzuwenden,

aber

dafür
lasst Ihr mir
einfach
keine
Zeit.

Tod. Variiert.

Es gibt Sätze, die möchte man einfach nicht hören. Wenn es irgendwie möglich wäre, würde man so einem Satz auf ewig aus dem Weg gehen. Selbst dann, wenn man sich lange vor dem Moment, in dem ein solcher Satz an einen gerichtet wird, darüber im Klaren ist, dass er irgendwann unausweichlich ausgesprochen werden wird, ja, werden muss, ist er nicht leichter zu ertragen. Und zwar nicht des Satzes wegen, sondern wegen des auslösenden Ereignisses und der daraus resultierenden Konsequenzen.

»Opa ist tot.« Das ist so ein Satz. Auf diese Weise, oder in einer der unzähligen möglichen Variationen, wird ihn im Normalfall fast jeder irgendwann mindestens einmal hören müssen oder bereits gehört haben. Da meine Eltern sich scheiden ließen, noch bevor ich ein Jahr alt war, aber die Eltern meines leiblichen Vaters großen Wert auf Kontakt zu ihrem ersten Enkel legten, hatte ich nicht nur das Privileg, eine Kindheit mit drei gleichrangigen Großelternpaaren genießen zu dürfen, sondern auch die unausweichliche Bürde, diesen Satz dreimal hören zu müssen.

»Opa ist tot.« Als ich den Satz zum dritten Mal in meinem Leben hörte, ging mit ihm nicht nur ein Gefühl der Trauer, sondern auch der Erleichterung, ja, sogar des Stolzes einher. Opa Hans hatte einige Monate vorher einen Schlaganfall erlitten. Einige Wochen danach war bereits klar, dass er sich davon nie wieder erholen würde. Halbseitige Lähmung. Dauerhaft ein kompletter Pflegefall. Er war für mich von Kindheit an immer ein Sinnbild der Lebensenergie gewesen. Ein faszinierend vitaler, gut aussehender Mann, der immer einen lustigen Spruch auf den Lippen hatte. Der noch mit über 80 Jahren wie ein Mittsechziger wirkte und regelmäßig zum Angeln an den Hafen fuhr. Das Leben leben. Das war es, was er wollte.
Als ich noch ein Kind war, hatte er mir vom Krieg erzählt. Er war in den Afrikafeldzug geschickt worden und dort früh in Kriegsgefangenschaft geraten. Was er mir vom Krieg erzählte, bezog sich allein auf diese Zeit in der Gefangenschaft und klang für mich damals mehr nach einem großen Abenteuer. Mein Opa in Afrika. Geschichten darüber, wie sie dort mit Schmuggel, Tausch und Bestechung versucht hatten, sich auch nur die allerkleinsten Annehmlichkeiten zu verschaffen. Strategien und Tricks, die sie entwickelten, um den Bergwerksbetrieb, in dem sie Arbeitsdienst leisteten, stundenweise lahmzulegen, um der sengenden Sonne zu entgehen. Bei alldem hatte ich meinen braungebrannten, lebensfrohen Opa vor Augen. Das Leben leben. Selbst in Gefangenschaft.
Als klar wurde, dass er sich von dem Schlaganfall nicht mehr erholen würde, versetzte es mir einen Stich, der viel schmerzhafter war als jener, den dieser Satz kurze Zeit später in mir auszulösen vermochte. Mein Opa war wieder gefangen. Diesmal im eigenen Körper. Ohne die Möglichkeit zu Schmuggel und Tausch. Niemand, der zu bestechen gewesen wäre. Keine Tricks und Kniffe, mit denen er wenigstens stundenweise der sengenden Hitze dieser unumstößlichen Wahrheit hätte entfliehen können. Kein Leben mehr zu leben. Nicht in dieser Gefangenschaft. Nur noch ein Dasein zu fristen. Ausgerechnet er.

Kurze Zeit später erzählte mein Bruder mir, dass Opa sich weigerte zu essen. Er war einfach nicht gewillt, den Rest seines Lebens in dieser Gefangenschaft zu verbringen.
Einige Tage darauf rief mich mein Bruder wieder an und neben all meiner Trauer verspürte ich auch Erleichterung und Stolz, als er diesen einen Satz sagte.

»Opa ist tot.« Als ich den Satz zum zweiten Mal hörte, traf er mich wie ein Schlag ins Gesicht. Er kam unvermittelt, so unerwartet. Und das, obwohl er am Tag nach Opa Franz‘ schwerem Schlaganfall kam. Also eben gar nicht so unvermittelt. Sogar mit Vorankündigung. Aber irgendwie konnte das nicht richtig sein. Opa Franz konnte nicht einfach einen Schlaganfall nicht überleben. Er war derjenige, der sein Treffen mit dem Tod schon früh hinter sich gebracht hatte und beschlossen hatte, dass er damit nichts zu tun haben wollte. Die bleibenden Andenken dieses Treffens waren Zeit meines Lebens immer sichtbar gewesen.
Auch er hatte mir in meinen Kindertagen gelegentlich vom Krieg erzählt. Ihn hatte man in den Russlandfeldzug geschickt. Was er zu erzählen hatte, handelte ebenfalls von seiner Zeit in Gefangenschaft. Doch seine Kriegserlebnisse hatten nichts von abenteuerlichen Anekdoten. Er erzählte von dünnen Stoffdecken, die keine Wärme boten, weil sie nur so groß waren, dass man entweder den Oberkörper oder die Beine bedecken konnte, und die der einzige Schutz waren, wenn sich nachts in den Baracken die Ratten vom Gebälk auf ihn herabfallen ließen. Von angefressenem und vollgepisstem Brot und ungekochten Rüben. Vom Glück, eine wässerige Suppe zu bekommen, deren spärliche Einlage aus mageren Fleischfetzen verhungerter Pferde bestand.
Und davon, was vor seiner Gefangenschaft passiert war. Von der Granate, die neben ihm explodierte, deren Splitter sein Bein schräg nach oben durchschlugen und bis in den Bauchraum vordrangen, wo sie sich seitdem im Gewebe eingekapselt als orangengroße Kugel auf seiner Bauchdecke nach außen wölbten. Davon, wie er in einem Holzschuppen unter einem Leichenberg zu sich gekommen war, weil man ihn bereits für tot gehalten hatte. Wie er völlig entkräftet stundenlang versucht hatte, auf sich aufmerksam zu machen, schließlich gefunden wurde, nur um kurz danach in Gefangenschaft zu geraten. Und dort so lange zu bleiben, dass seine Verletzungen die Zeit hatten, ohne angemessene Versorgung auf grauenvoll unwiderrufliche Weise zu verwachsen, so dass er den Rest seines Lebens würde an Stock und Krücken gehen müssen. Nicht selten kam mir als Kind der Gedanke, dass mit ihm in diesem Holzschuppen auch die Zukunft seiner Tochter und somit auch ich gestorben wäre, hätte er nicht dagegen angekämpft, zu den Toten gezählt zu werden. Er hatte sein Treffen mit dem Tod gehabt und sich verweigert. So, wie er sich auch den Rest seines Lebens weigerte, die Einschränkungen, die seine Verletzung mit sich brachten, hinzunehmen. Er musste einfach alles selber machen, ganz gleich, wie viel Mühe es ihn kostete. Er wollte sich sein Leben nicht aus der Hand nehmen lassen. So wenig, wie er sich sein freundliches Wesen und seinen stillen intelligenten Humor nicht nehmen ließ. Trotz seines langsamen, gebückten Hinkens ein Berg von einem Mann. Mit Händen, kraftvoll wie Werkzeuge, zerschunden und rau von all den Arbeiten, die er stets selbst erledigen wollte. Und doch wunderschön und auch sanft, selbst als sie nach Jahrzehnten, in denen sie sein Gewicht auf die Krücken stützen mussten, bereits deformiert waren.
Er wirkte unzerstörbar. Deshalb traf es mich wohl auch so unvermittelt, als ich am Tag nach seinem Schlaganfall meine Mutter anrief, um mit ihr zu klären, wann wir ihn gemeinsam im Krankenhaus besuchen wollen, und sie diesen einen Satz sagte.

»Opa ist tot.« Man sollte meinen, beim ersten Mal wäre der Satz am schwersten aufzunehmen gewesen. Das war er auch. Aber anders, als ich es erwartet hätte. Er hinterließ nur Verwirrung. Für über ein Jahrzehnt, bis diese Verwirrung endlich der Trauer Platz machen konnte.
Opa Ernst war ein kleiner, unscheinbarer Mann. Er hatte ein freundliches, aber sehr stilles Wesen. Später ist mir bewusst geworden, dass ich ihn in all den Jahren nie habe lachen sehen. Selbst ein Lächeln war sehr selten. Seine Lippen bildeten stets eine schmale Linie. Ich kann mich auch nicht erinnern, dass er mich mal in den Arm genommen hätte.
Und doch habe ich ihn nie als distanziert oder abweisend empfunden. Ganz im Gegenteil. Er war immer freundlich zu jedem und als Bezirksschornsteinfeger bei jedem bekannt und geschätzt. Worin er sich bereits in meiner Kindheit am deutlichsten von meinen anderen beiden Opas unterschied, war, dass er niemals ein Wort über den Krieg verlor. Ich war mir dessen ziemlich früh bewusst und gerne hätte ich von ihm gehört, was er damals erlebt hatte, traute mich aber nicht zu fragen. Als ich nicht mehr ganz so klein war, rechnete ich nach und kam darauf, dass er erst kurz vor Kriegsende 18 geworden war. Das schien mir als Erklärung ausreichend. Er hatte wahrscheinlich gar nicht als Soldat am Krieg teilnehmen müssen, deshalb redete er nicht darüber.

Am Abend, bevor ich diesen einen Satz zum ersten Mal in meinem Leben hören sollte, stand er beim Fernsehen aus seinem Sessel auf, sagte meiner Oma, er müsse nochmal weg und ging nach draußen. Er ging in die Garage, nahm eines der alten Springseile, die dort seit meinen Kindertagen hingen, fuhr in ein nahegelegenes Wäldchen und erhängte sich dort an einem Baum.
Als ich am nächsten Tag den Anruf bekam und hörte, was passiert war, blieb nichts als Verwirrung. Vielleicht saß weit dahinter irgendwo auch Trauer, doch ich war unfähig, sie zu spüren. Ich war einfach nur verwirrt und wütend. So sehr, dass ich seine Beerdigung nur aus großer Distanz erlebte, als ginge sie mich gar nichts an. Ich kann mich bis heute nicht wirklich daran erinnern. Und ich habe Jahre gebraucht, bis ich zum ersten Mal sein Grab besuchen konnte. Zu groß war die Wut, dass er einfach so, ohne ersichtlichen Grund, beschlossen hatte zu gehen. Er war nicht krank. Er hatte keine Schulden. Er hatte ein wunderschönes Zuhause, eine Familie, die ihn liebte und einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Wie konnte er einfach so gehen? Wie konnte er Oma einfach so mit allem allein lassen? Ich war unfähig, das zu begreifen. Und unfähig, Trauer zu empfinden.
Über zehn Jahre später, als ich wieder einmal meine Oma besuchte, kamen wir auf ihn zu sprechen. Vielleicht zum ersten Mal, seit diesem Tag. Wir hatten in all den Jahren oft darüber gesprochen, was sein Tod für meine Oma mit sich gebracht hatte, doch nie wirklich über ihn. Meine Oma sprach an dem Tag darüber, wie schwer es in den ersten Jahren war, dass viele hinter vorgehaltener Hand sie für seinen Tod verantwortlich gemacht hatten. Dass er es mit ihr nicht mehr ausgehalten hätte. Wie Menschen eben so sein können.
Wenn sie für etwas keine Erklärung sehen, suchen sie sich eine, ganz gleich, wie absurd sie sein mag. Ich sagte zu meiner Oma, dass, was immer auch der Grund für seine Entscheidung gewesen war, es die seine war, und er sie ohne sie getroffen hatte. Dass sie sich auf keinen Fall die Schuld dafür geben dürfe.
Sie war einen Moment still und sagte dann zu mir: »Weißt Du, ich habe das nie jemandem gesagt, aber ich glaube, er wollte einfach nicht noch einmal träumen.« Als ich sie fragte, was sie damit meine, sagte sie, dass sie nie mit jemandem darüber gesprochen habe, nicht einmal mit ihren Kindern, weil Opa das nicht gewollt hatte, dass er aber von schlimmen Albträumen geplagt wurde.
Man hatte ihn Ende 1944 kurz vor seinem Geburtstag eingezogen. Es hatte sich dann wohl gezeigt, dass er für den Einsatz an der Front körperlich nicht geeignet schien. So wurde er als Mitglied der Wehrmacht im Alter von 17 Jahren zum Arbeitsdienst abgestellt.
»Sie haben ihn in ein Lager bei Celle geschickt», sagte sie. »Dort hatte er jeden Tag die Aufgabe, die Toten einzusammeln. Sie haben ihm einen Karren gegeben, der von einem Esel gezogen wurde, und er musste diejenigen einsammeln, die in der Nacht gestorben waren. Oder die tagsüber starben. Manchmal haben sie auch Menschen erschossen. Da musste er dann warten, bis alles vorbei war und dann die Toten einsammeln. Er musste sie auf den Karren laden, wegfahren und ein Stück entfernt von den Baracken auf Haufen stapeln. Die Stapel mit den Toten, die er errichten musste, von denen hat er immer wieder geträumt. All die Jahre, die wir zusammen in einem Bett geschlafen haben, ist er jede Nacht schreiend aus diesen Träumen aufgewacht. Bis zum Schluss. Manchmal durfte ich ihn in die Arme nehmen, bis es wieder besser war, aber meistens nicht. Und wenn, dann redete er immer von den Stapeln mit den Toten. Ich glaube, er wollte einfach nicht noch einmal davon träumen.«

Ich habe das nachgeschlagen. Das Lager bei Celle war Bergen-Belsen. Dort starben bis zur Befreiung des Lagers durch britische Truppen am 15. April 1945 mindestens 52.000 Menschen auf Grund der Haftbedingungen. Davon allein im März 1945 über 18.000. Unter ihnen auch Anne Frank, deren Geschichte später die ganze Welt erfahren sollte. Sie war zwei Jahre jünger als mein Opa. Bis ich seine Geschichte erfuhr, brauchte es mehr als ein halbes Jahrhundert.
Ein britischer Militärarzt beschrieb in seinem Bericht die grauenvollen Zustände, die sie im Lager vorfanden. Die Stapel von verwesenden menschlichen Körpern, die überall aufgeschichtet waren. Ich muss immer daran denken, dass es mein Opa war, gerade erst 18 geworden und zu zierlich für den Frontdienst, der viele dieser Stapel errichten musste.

Ich spüre heute keine Wut mehr. Nur Trauer. Trauer um meinen Opa und um ein Leben, das geprägt war von rund 20.000 Nächten, in denen er schreiend aus sich ewig wiederholenden Träumen vom Tod erwachte.

Opa ist tot.

Und oft bin ich einfach nur froh für ihn.